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Erfahrungsbericht | Alexandra Falkenberg | 05.04.2023 – 06.08.2023

Es fühlt sich an, als wäre ich aus einem langen Traum aufgewacht. Doch die Öllampe aus rotbraunem Ton auf meiner glänzend weißen Ikea Kommode und der Stapel von selbstgebastelten Kinderabschiedskarten zeigen mir, dass es die Realität ist. Bis vor wenigen Tagen habe ich noch in einer völlig anderen Welt gelebt. Es sind genau vier Monate vergangen, seit ich mich bereits zum zweiten Mal auf den Weg in den Bergurwald von Sri Lanka gemacht habe. Schon beim Verlassen des Flugzeuges in Colombo schlug mir die schwül-warme Luft mit ihrem süßlich verbrannten, vertrauten Geruch entgegen. Und sofort wurde ich wieder vollkommen von dieser Welt vereinnahmt.

Vieles hat sich seit meinem letzten Besuch in 2019 verändert, nicht nur im Kinderdorf, sondern auch in mir selbst. In diesen vier Jahren bin auch ich gewachsen, habe mich weiterentwickelt und mehr über das Leben gelernt. Die Erinnerungen an meine früheren Erfahrungen im Kinderdorf begleiteten mich dabei ständig und dienten als eine Art Wegweiser für mich.

Dieses Mal ging mein Aufenthalt in Mahagedara in vielerlei Hinsicht tiefer. Dank meines Vorwissens, aber auch meiner neuen Perspektiven, konnte ich genauer beobachten und differenzieren, was typisch für Sri Lanka, für ein Kinderheim und für das Menschsein an sich ist. Ich war außerdem weniger überfordert von den vielen ersten Eindrücken und dem Eingewöhnen in die Kultur, da mir Vieles bereits vertraut war. Alle typischen ersten Herausforderungen wie der Toilettengang ohne Klopapier, das Wäsche waschen ohne Waschmaschine oder das Essen ohne Besteck waren für mich kein Problem mehr. Dadurch war ich weniger mit mir selbst beschäftigt und konnte meinen Fokus stattdessen direkt auf die Arbeit mit den Kindern legen.

Außerdem hat sich alles, was ich von damals in Erinnerung hatte und als selbstverständlich angesehen habe, als Momentaufnahme eines Ortes, an dem alles im ständigen Wandel ist, herausgestellt. Insbesondere das Miteinander der Betreuer: innen hätte kaum verschiedener sein können. Damals gab es viel Streit zwischen Ihnen, die zu einer Art Rivalität zwischen den Kinderhäusern führte. Und bei den vielen Heimlichkeiten war ich ständig zwischen einer Rolle als Freundin und Verräterin hin und her gerissen. Außerdem hat es mich damals viel Kraft gekostet Kritik zu äußern, in einer Kultur, in der dies als Beleidigung verstanden wird. Zu meinem Überraschen war es diesmal ganz anders und alle negativen Erinnerungen waren sofort wie ausgelöscht. Mittlerweile herrscht ein gutes Miteinander zwischen den Betreuerinnen und eine ganz offene, ehrliche Kommunikation. So war ein Arbeiten auf Augenhöhe in einem echten Team möglich, bei dem man sich ganz auf das Wohl jedes einzelnen Kindes konzentrieren und über alles offen diskutieren konnte.

Auch war anders, dass diesmal zeitgleich zwei weitere Freiwillige, ein Paar, mit mir vor Ort waren. Anfangs war ich etwas neidisch auf ihre gemeinsamen Momente und die Distanz zum Alltag, den Sie durch das Wohnen außerhalb des Kinderdorfes gewinnen konnten. Doch ich erkannte schnell, dass ihnen dadurch wertvolle Augenblicke mit den Kindern entgingen. Gerade aus diesen kleinen Gesten und Momenten kann man Kraft für den teilweise sehr anstrengenden und schwierigen Alltag schöpfen. Zu diesen Momenten, die ich erleben durfte, zählt zum Beispiel wie die Kinder aus dem Sunshine House nachts heimlich aus Keksen, Butter und Orangensaft einen Kuchen für ein Geburtstagskind zubereitet haben. Und auch wenn in deutschen Vorstellungen Kuchen anders ist, war dieser etwas ganz Besonderes, da mit nahezu nichts versucht wurde dem Mädchen einen schönen Moment zu bereiten. Oder als ein Kind aus dem Honest House, welches im Alltag ständig Ärger bereitet hat, mir ihr Erinnerungsbuch gezeigt hat. In diesem bewahrt sie Gegenstände, wie ein Schokoladenpapier, das ihr eine Freundin gegeben hat, auf, um sich an diese schönen Momente erinnern zu können. Oder wenn man den Fortschritt bei den beiden jüngsten, die aus dem staatlichen Baby Home kamen, so stark mitverfolgen kann. Trotz ihres gestörten Urvertrauens und obwohl sie von Grund auf alles neu lernen mussten, hat sich eines der beiden Mädchen an meinem letzten Tag mit mir gemeinsam in den Swimming Pool getraut. Und obwohl sie zuvor so viel Angst vor dem Wasser hatte, wollte sie Ende gar nicht mehr weg.

Aber darüber hinaus habe ich realisiert, dass das, was einen Aufenthalt in Mahagedara so besonders wertvoll und lehrreich macht und ihn von anderen Freiwilligendiensten unterscheidet, das Leben auf einer Ebene mit den Einheimischen ist. Nur so kann man ihr Leben und die Kultur in der Tiefe verstehen und gleichzeitig erleben, wie wenig man selbst zum Leben braucht. Diese Erfahrung erfordert auch, jeden Anflug eines Überlegenheitsgefühls zu überwinden und anzuerkennen, was man von ihrer Arbeit vielleicht auch selbst nicht kann. Dazu gehört allem voran, dass man die Landessprache nicht spricht.
 

Für mich war die Zeit in Little Smile sehr vielschichtig. Einerseits gibt es das direkte Leben mit den Kindern, das einen herausfordert sich auf jedes einzelnes jeden Tag neu einzulassen. Darüber hinaus bot sie die Gelegenheit viel über die Welt und das Menschsein zu lernen. Und schließlich ist ein wichtiger Teil der Zeit vor Ort die Selbstreflektion über das eigene Leben.

Die Zeit mit den Kindern war dieses Mal ganzheitlicher, da ich im Verlauf in allen Häusern und mit allen Altersstufen gearbeitet habe. So habe ich Einblicke in den gesamten Lebenszyklus in Little Smile und die jeweils spezifischen Schwierigkeiten erhalten. Es war allerdings auch nicht einfach, denn jeder Hauswechsel war, als würde ich neu in Little Smile beginnen. Die Bezugsperson, die Betreuerin, mit der ich jeweils zusammengearbeitet habe, mit der ich über alles im Haus und außerhalb gesprochen habe, änderte sich ständig. Auch musste man sich bei den Kindern neu einarbeiten und der Wissens- und Beziehungsvorsprung, mit dem man überhaupt erst wirksam in einem Haus sein kann, war weg. Außerdem kann es schmerzhaft sein zuzusehen, wie die Kinder aus den ehemaligen Häusern einen nach und nach vergessen, selbst wenn mir bewusst ist, dass es nicht sinnvoll ist, wenn sie gerade zu Freiwilligen eine zu enge Bindung aufbauen.
 

Auf der zweiten Ebene habe ich viele interessante Einblicke bekommen, die Touristen verschlossen bleiben: Die Zustände im staatlichen Baby Home und wie schwierig es sein kann selbst mit Unterstützung von Little Smile durch ein neues Gebäude dort eine Besserung zu erwirken; ein von Nonnen geführtes Mädchenheim, welches erahnen lässt wie es Kindern in anderen Kinderheimen geht; die Beerdigung eines Nachbarn inklusive aufgebahrter Leiche im Wohnzimmer und viel zu süßer Limonade sind nur einige Beispiele.
Insbesondere die Begegnung mit den älteren und kranken Menschen, die am Vollmondtag einen kilometerweiten Weg zurücklegen, um von Little Smile eine monatliche Spende zu erhalten, hat mich sehr berührt. Denn in Deutschland kann man sich aus der sozialen Verantwortung für seine Mitmenschen, wenn auch unterbewusst, leicht herausreden. Sei es entweder durch die Annahme, jeder sei seines eigenen Glückes Schmied oder dass es Aufgabe des Staates sei den Schwachen zu helfen. Hier ist aber ganz klar: Wenn Little Smile nicht hilft, hilft diesen Menschen niemanden. Und selbst das ist nur ein Tropfen auf den heißen Stein in einer Welt voller ähnlicher Schicksale.

Auf der dritten Ebene habe ich realisiert, dass es von einem selbst abhängt, wie tief man die Erfahrungen in Little Smile an sich heranlässt und wie stark es einen zum Nachdenken bewegt. Denn es macht einen Unterschied, ob man wie ich als damals 18-jährige, ungeformte, offene Persönlichkeit zum ersten Mal an diesen Ort kommt und diese Erfahrungen macht, weil man etwas über die Welt erfahren möchte. Oder ob man bereits das Studium abgeschlossen hat, fest im Job steht und bestimmte Fragen vielleicht gar nicht mehr an sich heranlassen möchte, da es das eigene Lebenskonstrukt zum Wackeln bringen könnte.

Die Zeit in Mahagedara hat sich tief in mein Herz eingebrannt und ich vermute, dass ein Teil meines Herzens immer an Little Smile hängen wird. Es ist schmerzhaft so weit weg von diesem puren Leben und den Menschen zu sein, die ich in mein Herz geschlossen habe. Aber mir bleibt mir die Gewissheit, dass ich diese Erfahrungen in mir trage und versuchen kann sie auf eine andere Weise hier weiterzugeben. Außerdem tröstet es zu wissen, dass dort Menschen wie Anka Blank und Michael Kreitmeier weiterhin jeden Tag alles geben, um den Kindern ein bestmögliches Leben zu bereiten. Vielen Dank, dass ich die Chance hatte erneut und tiefer in diese Welt einzutauchen und einen Einblick darin zu erhalten, was es bedeutet, täglich und unermüdlich für mehr Menschlichkeit zu kämpfen.