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Begleiten Sie den 60jährigen bei seiner Reise in eine anderen Welt.

Heinz Hörmann aus Rosenheim hat das Kinderdorf besucht und seine Erlebnisse aufgeschrieben. Begleiten Sie den 60jährigen bei seiner Reise in eine anderen Welt.
Lieber Heinz,
es ist ein wertvolles Geschenk, die Welt durch die Augen anderer Menschen erleben zu dürfen. Wenn „diese Welt“ dann auch noch das ist, was einem wirklich am Herzen liegt, dann wird dieses andere ERLEBEN einen neuen Blickwinkel öffnen. Ich habe deine Zeilen verschlungen, mal schmunzelnd dann wieder sehr nachdenklich, nie aber gleichgültig. Du bist ein guter Beobachter, bist ahnungslos und offen zu uns nach Little Smile gekommen. Ich kann mir vorstellen, dass in diesen 2 Tagen noch viel mehr für dich passiert ist, dass es schwer war, nicht endlos zu schreiben, eine Auswahl zu treffen.
Mein Sohn Manuel hat mich einmal bei einem seiner Besuche in Little Smile gefragt: „Papa, warum passiert in Little Smile in einem Tag mehr als in Deutschland in einem ganzen Monat?“ Vielleicht ist es die Verantwortung, ja Sorge, die ich dort für so viele Menschen, Kinder wie Erwachsene habe, vielleicht ist es dieser Aufbruch, den wir dort wagen. In wenigen Jahren müssen diese Menschen viele Jahrzehnte an Entwicklung durchmachen. Ganz unterschiedliche Menschen versuchen als große Familie zusammenzuwachsen.
Oft muss ich mich dort auf meinen Menschenverstand verlassen, manchmal bin ich auch ratlos, stoße an Grenzen die weh tun, besonders wenn ich Hilfesuchende abweisen muss.
Menschlichkeit ist ein großes Abenteuer, Liebe zu schenken immer auch ein Risiko, weil man sich öffnet, verletzbar wird.

Lieber Heinz,
in deinem Staunen und deinem Fragen, in deinen Beobachtungen und deinen Schilderungen wird mir manchmal ein Spiegel vorgehalten. Wie erleben Andere diesen Ort, der so etwas wie meine Antwort auf die Frage ist, ob wir all dem, was um uns herum geschieht wirklich hilflos ausgeliefert sind. Es ist ein kleines Wunder, was dort in den Bergen Sri Lankas in relativ kurzer Zeit geschehen ist. Es gab keine Straße, nicht einmal einen Weg, keinen Strom, kein Wasser, vor allem aber gab es für diese 64 Kinder, die heute in Little Smile leben, keinen Zufluchtsort, keinen Platz für ein „kleines Lächeln“ und absolut keine Chance auf eine menschenwürdige Zukunft.
Wenn ich so zurückdenke, das Schwerste war wirklich der erste Schritt, diese Entscheidung für Andere, ohne WENN und ABER. Danach darf man nur nicht aufhören weiterzugehen, sich nie entmutigen lassen.
Die letzten 5 Jahre waren nicht einfach, haben Spuren hinterlassen, nicht nur in den Bergen Sri Lankas, auch in mir. Ich habe keine Angst vor dem, was die Zukunft bringen wird, denn ich nutze jeden Tag, jeden Augenblick, so gut ich es eben kann. Zwei Tage hast du mit uns dort geteilt, hast viel erlebt und hast dich – und das ist entscheidend – berühren lassen. Du hast anders von uns dort Abschied genommen als du gekommen bist, auch das spüre ich zwischen den Zeilen deines Berichtes. Mir wurde durch dich neues Staunen und Wundern geschenkt, ich durfte Little Smile neu erleben. Dafür möchte ich dir DANKE sagen und auch dafür, dass du dich geöffnet hast für ein anderes Denken.
Ich weiß, du wirst wieder kommen und du wirst deine Frau mitbringen, um das, was dir dort begegnet ist, mit dem Menschen zu teilen, den du liebst.
Dass du im Hotel Lanka Princess am Tag vorher den Film über Little Smile gesehen hast, dass ich mit drei Kinder aus Little Smile, mit Asha, Niluka und Saradha dort übernachtet habe, was ja sehr selten vorkommt, dass du mich angesprochen hast, dass ich dich eingeladen habe mitzukommen, dass wir den selben Rückflug nach Deutschland hatte und dass du dich getraut hast, Ja gesagt hast......
Lieber Heinz, es gibt keine Zufälle, glaube mir. Du solltest Little Smile begegnen und du wirst ganz sicher wiederkommen.
Ich wünsche dir, dass diese gesunde Unruhe, die dich jetzt erfasst hat, anhält, dass du dir die Fähigkeit des Staunens auch weiterhin bewahrst und dass durch deine Zeilen, durch dieses Erzählen von gerade mal „2 Tage in einer anderen Welt“, andere Menschen berührt werden so wie du berührt wurdest vom großen ABENTEUER der MENSCHLICHKEIT.

Eichstätt im Juli 2003 in Verbundenheit

Michael Kreitmeir
HIER FOLGT DER BERICHT ÜBER 3 TAGE MIT LITTLE SMILE IN SRI LANKA

Ostern 2003 Urlaub in Sri Lanka

So etwas haben wir noch nie gemacht. Hotelurlaub. 5 Sterne. All inclusive. Dazu eine Ayurvedakur. Passt zusammen, wie die Faust auf´s Auge. Wie wir dazu kamen ist eine andere Geschichte, wir wollten es nicht und jetzt sind wir im Lanka Princess Hotel, Beruwela, Sri Lanka.

Es kann eine Sache noch so perfekt sein, immer gibt es jemanden, der etwas rumzumäkeln hat. An Lanka Princess Hotel gibt es nichts rumzumäkeln, außer vielleicht........, aber ich will nicht rummäkeln. Anlage: perfekt, Service: perfekt, Sri Lanka Küche: perfekt, Europäische Küche: perfekt, Ayurvedabehandlungsmöglichkeiten: perfekt, Erholung: perfekt. Wollen sie noch etwas wissen? Antwort: perfekt. Vielleicht ist alles zu perfekt, aber ich will wirklich nicht rummäkeln.

Zwei Wochen perfekten Urlaubs liegen vor uns. Nichts tun, genießen, sich verwöhnen lassen, Ayurvedakuren, Sonne, Wärme, Strandspaziergänge. Wir lernen liebe Leute kennen, man verbringt gemeinsame Zeit bei den Malzeiten und kleinen Unternehmungen, abends noch einen Drink in angenehmer Gesellschaft, nicht zu spät ins Bett, lesen, schlafen.

Mehr als die Hälfte der schönen Zeit ist schon um, ein weiterer höchst angenehmer Tag ist vorbei, wir liegen lesend auf unseren Betten in einem Blütenmeer. Zweimal täglich werden aus den Bettdecken kunstvolle Dekorationsfiguren geschaffen und mit Unmengen von Blüten verziert. Es gibt die Möglichkeit BBC World oder Deutsche Welle als Nachrichtensender im Fernsehen zu empfangen. Ich schalte zwischen den beiden hin und her. Beide berichten das Gleiche und keiner hat neue Nachrichten zu den Ereignissen im Irak Der dritte Kanal zeigt immer Schnee und auf den nächsten Kanälen kommen hausinterne Musikprogramme. Ich höre gerne klassische Musik und suche danach. Im dritten Kanal schneit es nicht, es läuft ein Film über Sri Lanka. Leider ist er schon fast vorbei. Ich schalte den Fernseher aus und lese noch ein Weilchen.

Am Nachmittag des nächsten Tages, wir sitzen bei Kaffee und Tee in einer gemütlichen Runde zusammen, wendet sich das Gesprächsthema diesem Film über Sri Lanka zu. Ich höre zum ersten mal von einem Fernsehreporter, einem Kinderdorf, das der offensichtlich halbverrückte Fernsehmensch im Urwald errichtet hat, in dem er sein halbes Leben verbringt. Was ich weiter aufschnappe ist für mich lediglich Kaffeetratsch, denn so verrückt kann ein einzelner Mensch doch gar nicht sein. Ich höre kaum mehr zu, trotzdem bekomme ich mit, dass heute Abend um 22 Uhr ein weiterer Film des selben Journalisten über Sri Lanka gezeigt werden soll.

Fast hätte ich es vergessen, schalte aber den Fernseher so rechtzeitig ein, dass ich noch den Großteil des Filmes mitbekomme. Der Film berichtet von einem Kinderdorf im Dschungel des Innenlandes, einer heilen Welt mitten in Elend und bitterster Armut und von den Kindern, die in dem Dorf leben, von denen ein Teil nicht mehr am Leben wäre ohne den Journalisten. 1999 wurden die ersten Häuser gebaut und was in der kurzen Zeit für die Kinder alles geschaffen worden ist, überschreitet die Grenzen des Vorstellbaren.

Donnerstag 24.4.2003

Beim Frühstück am nächsten Tag bilde ich mir ein, dass dieser Fernsehreporter ein paar Tische neben uns sitzt, zwei, drei Tische zusammengeschoben, mitten in einer Gruppe von Erwachsenen und Kindern. Was will er mit den Kindern hier im Luxushotel. Er ist es wohl doch nicht. Gegen Mittag kommt er mir am Pool entgegen. Ich spreche ihn an, weiß immer noch nicht, ob er dieser Fernsehreporter ist. „Ich bewundere Sie für das, was sie für die Kinder tun.“ Er fängt sofort an zu erzählen, binnen kurzer Zeit ist er umringt von einer Schar von Hotelgästen, die mit Fragen auf ihn einstürmen. Er erzählt von einem Schlüsselerlebnis, das in ihm den Entschluss auslöste, dass etwas geschehen muss. Ein Kind hatte mit seinem Sohn gespielt, statt zu arbeiten und dafür derartige Prügel bezogen, dass es sie nicht überlebte. Er kennt Sri Lanka gut, und weiß von vielen, vielen Kindern, die keine Chance haben ein Leben zu leben, das man Leben nennen kann. Die Zustände in den ehemaligen tamilischen Kriegsgebieten sind katastrophal und nicht nur da. Eine Karriere als Moderator einer Sendereihe hat er abgelehnt und sich entschlossen zu helfen. Er erzählt von den unglaublichen Schicksalen einzelner Kinder, die heute im Kinderdorf leben. Das Dorf heißt „Little Smile“. Wenn die Kinder zu einem kleinen Lächeln fähig sind, ist das erste Ziel erreicht. Darüber hinaus will er den Kindern aber eine Zukunft bieten. Eine gute Schulausbildung, praktische Ausbildung, Berufsausbildung, vielleicht sogar ein Studium. Momentan leben 64 Kinder in „Little Smile“. Das Schlimmste ist, dass er so viele Kinder ablehnen muss. Er will weitere Unterkünfte bauen und binnen weniger Jahre wirtschaftliche Autarkie erreichen. Er erzählt von den vielen Vorhaben um das hochgesteckte Ziel zu erreichen. Vieles ist schon erreicht, mehr muss noch getan werden. Warum er heute hier im Hotel sei? In einem früheren Film über Sri Lanka hat er über unser Hotel berichtet. Es gibt nach wie vor gute Kontakte zur Hotelleitung. Er ist hier vorbeigekommen und hat spontan eine Einladung angenommen, mit drei Kindern und zwei weiteren Personen hier zu übernachten. Sicher, für die Kinder ist es ein Schock, dies hier alles zu erleben. Er hat ihnen aber gesagt, dass die Leute, die hier Urlaub machen, sich das nur mit harter Arbeit verdienen können und dass es sich auch für sie lohnt fleißig zu lernen, um ein besseres Leben führen zu können. Es wird ein heilsamer Schock sein, ist er überzeugt, und sie werden den Tag hier im Hotel ein Leben lang nicht vergessen. Über eine Stunde erzählt er von dem Dorf, den Kindern, dem Fortgang der Bauarbeiten, der Korruption in der Behörden, den finanziellen Schwierigkeiten, den Hilfen, die er bekommt und dass doch der Großteil der eingesetzten Gelder sein eigenes Geld ist. Wir stehen alle in der prallen Mittagssonne, vergessen die Gefahr eines Sonnenbrandes, einige hat es auch böse erwischt, und gehen dann mit dem zwiespältigen Gefühl von Hilfsbereitschaft und Skepsis zum Essen. Der Kern ist bestimmt wahr, aber die Einzelheiten sind kaum zu glauben.

Inzwischen weiß ich auch seinen Namen. Michael Kreitmeir.

Wirre, hilflose Gedanken gehen uns durch den Kopf. Wie kann man ihm helfen? Ein paar Euro und alles wieder vergessen ist keine Lösung. Aber zunächst siegt die Neugier, wir wollen mehr wissen und suchen am Nachmittag noch mal das Gespräch mit Herrn Kreitmeir.

Herr Kreitmeir lädt meine Frau und mich ein mit in den Dschungel zu fahren, um das Kinderdorf „Little Smile“ selbst zu sehen. Wir sind beide sehr verunsichert und überlegen. Nachdem Herr Kreitmeir am Sonntag mit dem selben Flugzeug wie wir wieder nach Deutschland zurückkehrt, und ich somit auch wieder problemlos nach Colombo komme, wage ich es. Wir entscheiden, dass meine Frau im Hotel bleibt, ich mit ins Kinderdorf fahre und wir uns am Flughafen wieder treffen.

Was würde ich brauchen? Ich suche Herrn Kreitmeir. Nichts meint er, vielleicht eine Reserveunterhose und meine Bedenken, dass ich kaum noch Rupien hätte, beantwortet er damit, dass er welche hätte und ich bei ihm tauschen könne oder wir am Sonntag am Flughafen abrechnen könnten. Nach dem Abendessen, so ca. 22 Uhr soll es losgehen. Fahrzeit 6 Stunden, wenn alles gut geht.

Also packe ich meinen Urwaldkoffer. In eine Plastiktüte, wir haben keine Tasche dabei, meine Zahnbürste und Zahnpasta, einen Nassrasierer, eine kurze Hose und ein Hemd, meinen Pass und das Flugticket, sollte es am Flughafen eng werden, noch ein Paar Socken und die schon erwähnte Reserveunterhose. Meine Geldbörse. Noch den Fotoapparat. Genug.

Mit meiner Ausrüstung in der Hand gehe ich zum Abendessen, wo ich höre, dass wir nicht um 22 Uhr starten. Herr Kreitmeir hat Magen-Darm-Probleme. Wir suchen und finden geeignete Medikamente, ich weiß jetzt, warum er bei meiner Reiseausrüstung nur an eine Reserveunterhose gedacht hat und erfahre den neuen Starttermin. Heute Nacht 4 Uhr.

Am Abend gibt es noch eine Folklore-Tanzvorstellung, die ich bei einem Glas Bier in angenehmer Gesellschaft genieße. Herr Kreitmeir hat sich nicht hingelegt, ich sehe ihn da und dort in Gesprächen. Gegen 22 Uhr bestelle ich den Weckdienst für 3 Uhr 30 und lege mich schlafen.

Freitag 25.4.2003

Weckruf 3 Uhr 30. Ich bin schon wach, habe aber gut geschlafen. Mit einem flauen Gefühl im Magen bin ich mir momentan nicht mehr so sicher, ob ich mitfahren soll. Beim Duschen überlege ich, ob ich bei Temperaturen, die jetzt schon 30 Grad betragen, lange Hosen anziehen soll, so wie es hier üblich ist und entschließe mich dazu. Ich verabschiede mich von meiner Frau.

Auf einer Couch in der Empfangshalle schläft der Nachtportier, der sofort hochspringt und mir ein Lunchpaket bringt. Bis auf drei Bananen und eine Orange esse ich gleich alles auf. Dann kommen die anderen und gehen raus zum Auto. Ich mache Michael Kreitmeir darauf aufmerksam, dass es an der Rezeption Lunchpakete gäbe, was sich aber als falsch herausstellt. An die Besuchergruppe aus dem Kinderdorf hatte man nicht gedacht.

Wir steigen ein. Es ist ein Kleinbus mit drei Sitzreihen für Fahrgäste. Ganz hinten auf einer durchgehenden Sitzbank liegt Dominik. Er ist Deutscher, der nach einer abgeschlossenen Schreinerlehre drei Monate im Kinderdorf gearbeitet hat und am Sonntag mit uns nach Colombo fahren wird. Sein Rückflug wird am Montag sein. Davor sitzen die zwei älteren Mädchen. Ihr Alter schätze ich auf zwölf, dreizehn, sie sind sehr hübsch. Ihre Plätze und die Sitzbank davor sind durch breite Schiebetüren von beiden Seiten erreichbar. Ich steige ein. Neben mir eine größere Tasche und daneben das kleinste der drei Mädchen. Sie ist müde und liegt zusammengerollt auf ihrem Sitz, die Tasche als Kopfkissen. Vorne links sitzt Herr Kreitmeir und rechts der Fahrer, von dem ich weiß, dass er Angestellter im Kinderdorf ist und zwar nicht nur als Fahrer, sonder unter anderem auch als Computerlehrer.

Türen zu. Wir starten. Es ist heiß und der Motor ist laut. Aber es gibt eine Klimaanlage, die sofort zu arbeiten beginnt. Nach wenigen Metern erreichen wir die Hauptstraße und biegen nach links ab. Es geht also Richtung Colombo. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wo das Kinderdorf liegt. Alles was ich weiß ist, dass es irgendwo im Innenland, im Dschungel, in den Bergen liegt, in der Nähe der Ortschaft Koslanda, die ich auf meiner Sri Lanka Karte nicht finden konnte. Das kleine Mädchen neben mir wird immer kleiner und fängt an zu zittern. Ich vermute, dass es ihr zu kalt ist und frage sie. Ein scheues Kopfnicken. Die Klimaanlage wird abgeschaltet und die mit Windabweisern versehenen Seitenfenster an der Fahrer- und Beifahrerseite geöffnet. Auf der Straße ist viel los. Autos, Tuktuks, Lastwagen, Omnibusse, Radfahrer, Fußgänger, Kühe, Hunde und auf dem Seitenstreifen alles, was nicht mehr gebraucht wird. Die entgegenkommenden Autos blenden unsäglich, ich möchte nicht fahren müssen. Entsprechend ist auch die Reisegeschwindigkeit. Nach einer Stunde haben wir 40 km zurückgelegt. Der Fahrer wird unsicher, ob er die Rechtsabzweigung, die er sucht, übersehen hat. Er hält an, fragt, ich kann nichts verstehen, er spricht jetzt singhalesisch und fährt weiter um dann kurz darauf abzubiegen. Einen Wegweiser habe ich nirgends gesehen, er offensichtlich auch nicht, denn bald darauf fragt er wieder, wir sind immer noch innerhalb eines größeren Ortes, ein Wirrwarr an Handbewegungen beschreibt einen offensichtlich komplizierten Weg. Am Ende der Ortschaft fragt er noch mal nach, ob wir auf dem richtigen Weg sind, was mit einer Handbewegung bestätigt wird. Die Prozedur wiederholt sich noch ein paar Mal, bis wir eine Straße erreichen, die sowohl dem Fahrer, als auch Herrn Kreitmeir bekannt ist. Sie ist eng und kurvig aber eben. Der Verkehr hat nachgelassen, dafür sind mehr Hunde auf der Straße, die unserem Bus nur soweit ausweichen, dass er vorbeikommt.

Es fängt an zu dämmern. Felder sind erkennbar, einzelne Bäume, da und dort ein Haus, immer wieder kleinere Ortschaften. Vor uns wird es bergig. Wir erreichen wieder einen größeren Ort, in dem kurz diskutiert wird, welche der beiden offensichtlich möglichen Routen eingeschlagen werden soll. Die eine ist mit Baustellen übersät, die andere noch enger und noch kurviger. Die Baustellenroute wird gewählt, in der Hoffnung, dass man dort noch nicht arbeitet. Nach endlosem bergauf, bergab, vorbei an Teeplantagen und Teefabriken, erreichen wir die Baustellenstraße. Ich bin überrascht. Die Koreaner bauen diese Straße, die den Norden mit dem Süden durch die Mitte des Landes verbinden soll. Teile sind schon fertig, auf denen man ohne weiteres 100 km/h oder mehr fahren könnte, aber die ganze Strecke ist auf 50 km/h beschränkt. Der Verkehr rollt so mit 70 bis 80 km/h. Die Trassenführung ist unglaublich. Häuser, die der neuen Streckenführung im Weg waren, wurden abgerissen. Dort, wo sie teilweise in die neue Trasse ragten, wurden die entsprechenden Teile entfernt, sodass man jetzt nicht mehr vom Schlafzimmer ins Wohnzimmer, sondern direkt auf die Straße gelangt. Viele solcher Halbhäuser sind zu sehen, die da, wo die Straße schon fertig ist, den Eindruck von frisch verheilten Operationsnarben auf mich machen und dort ,wo man noch auf Schottertrassen fährt, sieht man noch die Reste von Zimmern, die bald Seitenstreifen der Straße sein werden. Wir kommen gut voran.

Kurze Pause. Wir vertreten uns die Beine. Ich öffne die Heckklappe und suche die verbliebenen Bananen und die Orange und gebe sie den Kindern. Drei Flaschen Wasser, die ich am Morgen noch schnell in meine Plastiktüte gesteckt habe, machen die Runde. Fahrerwechsel. Herr Kreitmeir übernimmt das Steuer. Der Fahrer weist mir den Beifahrersitz zu und nimmt meinen bisherigen Platz ein. Weiter geht’s.

Wir verlassen die Traumstraße und nähern uns hohen Bergen. Morgennebel verhängen die Landschaft. Es geht wieder bergab und wir kommen ins Regenwaldgebiet. Die Baumriesen am Straßenrand kann ich nicht beschreiben. Die muss man selbst sehen. Herr Kreitmeir erklärt mir, dass es Regenbäume wären. Ich habe noch nie etwas davon gehört, geschweige denn gesehen. Einfach gigantisch. Dann geht es langsam bergan, die Wälder werden lichter, es gibt wieder Palmen, in Variationen, wie ich sie noch nie gesehen habe, dazwischen Reisfelder und dann der erste Blick auf die hohen Berge. Der Anblick ist derart unwirklich, dass mir der Mund offen stehen bleibt. Im Vordergrund Reisfelder, Palmen, die gigantischen Regenbäume, kleine Wäldchen und Wiesen, durch die sich die schmale Straße nach oben schlängelt. Dahinter, unglaublich deplaziert, hochgewachsene Kiefernwälder. Kiefern wurden zur Kolonialzeit von den Engländern importiert, weil das Holz nicht so leicht von Termiten befallen wird. Sie wirken sehr gepflegt. Die dunklen Kiefernwälder durchsetzt von einzelnen gewaltigen, hellgrünen Laubbaumriesen. Die Berggipfel unbewaldet, grüne Matten, dass man glaubt in Tirol zu sein, dazwischen große, glatte, nasse Felsplatten, die in der Sonne so glänzen, als ob da oben Schneefelder wären. Das Hirn weigert sich den Anblick zu verarbeiten.

Gegen 9 Uhr halten wir noch mal an. Zu meiner Verblüffung gibt es hier eine Raststätte mit einem recht gut ausgestatteten Verkaufsstand. Wir werden alle gefragt, wer Tee will. Einer von uns will keinen. Herr Kreitmeir spricht den Mann an, der uns den Tee bringt, ob er sich an ihn erinnere. Wir sind nur mehr eine Stunde vom „Children Village Little Smile“ entfernt, und da kennt bereits jeder den blonden Riesen. Wir sitzen auf einer überdachten Terrasse vor der Verkaufstheke mit Blick in die Ebene. Der Tee schmeckt enorm gut, was Wunder, wir sind ja in Sri Lanka. Dann schau ich mich um, was es hier so alles zu erstehen gibt. Ein Wandregal, voll mit Dingen, wie man sie bei uns in einem Tante Emma Laden findet. Auf der Theke Essbares, Trinkbares, Obst, Süßigkeiten. Es gibt auch eine große Auswahl an Zigaretten. Ich bin Raucher, habe aber keine Zigaretten dabei, weil ich im Kinderdorf nicht rauchen will. Bin schwer versucht mir welche zu kaufen, widerstehe aber der Versuchung.

Bei der Weiterfahrt erzählt mir Michael Kreitmeir, dass der Mann an der Raststätte Koch sei, und er bemüht sei ihn zu engagieren, denn das Essen im Kinderdorf sei ein Problem und dass er ihn wieder eingeladen hätte, ins Kinderdorf zu kommen. Die Unterhaltung im fahrenden Auto ist für mich mühsam, denn ich hatte mir vor wenigen Tagen zuerst am linken, dann am rechten Ohr eine Mittelohrentzündung zugezogen, die gut mit Antibiotika behandelt wurde, alles fast wieder in Ordnung. Das Hören macht aber immer noch Schwierigkeiten und außerdem ist es im Auto recht laut. Wir fahren in über 1000 m Höhe den Bergrücken entlang. Es geht durch Wälder, freie Flächen, über enge Brücken, rauschende Bäche darunter, die sich zwischen enormen Felsbrocken ihren Weg den steilen Berg hinunter gegraben haben. Wasserfälle, Kaskaden, unheimlich schön. Die Straße ist eng, extrem kurvig aber immer noch Hauptverbindungsstraße, die wir dann nach rechts verlassen. Eigentlich kann eine Straße doch gar nicht mehr enger werden, aber sie wird es. Wir überqueren ein gewaltiges Geröllfeld, der größte Erdrutsch der Welt hat dort stattgefunden.

Etwa 10 Uhr ist es, als wir Koslanda erreichen. Einige Häuser, eine Polizeistation, Polizisten mit Gewehren am Eisentor, ein Krankenhaus, ein Marktplatz ,Obst, Gemüse, buntes Menschengewimmel, noch ein paar Häuser, vorbei. Kurz darauf bleiben wir stehen. Ich sehe ein Schild. „Welcome Children Village Little Smile”. Der Bus rangiert, es geht scharf rechts nach unten durch ein zur Hälfte geöffnetes Schmiedeeisentor. Zwei Meter hoher Stacheldrahtzaun auf massiven Betonpfeilern, dicht gespannt. Eine Linkskurve und wir halten auf einer ausgedehnten Terrasse vor einem großen Gebäude mit weiter, schattenspendender Überdachung und einer breiten Glasfront. Das Haupthaus oder Gästehaus. Teile der Terrasse liegen im Schatten riesiger Bäume, ein Springbrunnen, überwuchert von einer Kletterpflanze, Zierfische im Brunnen. Im Schatten ein großer Tisch, viele Stühle, die Terrasse von einer mehrere Meter hohen Steinmauer gestützt. Freier Blick nach unten auf viele Dächer, die sich im Grün der Bäume zu verstecken versuchen. Kinder im Kindergartenalter haben ihr Spiel unterbrochen und winken herauf. Rufe sind zu hören, die fast wie Papa klingen. Einige kommen die steile Treppe hoch. Auch Erwachsene sind plötzlich da.

Dominik führt mich ins Haus. Gleich hinter der Glasfront wunderschön geschnitzte Sitzmöbel aus massivem Holz, dunkel gebeizt, oder ist es Natur? Eine Dreiersitzbank, Stühle, ein Stuhl fast Liegestuhl, alle Sitzflächen kunstvoll gitterbespannt. Der Boden blitzblanker, weinroter Stein. Eine Stufe hoch ein großer Raum. Im hohen Dachgebälk riesige Ventilatoren. Der selbe Boden wie am Eingang, blitzeblank. Links sehe ich ein gut gefülltes Bücherregel und Unmengen an Videobändern. Alle sauber nummeriert und in einem Verzeichnis erfasst. Tierfilme, Naturfilme, Märchen, Lehrfilme in deutsch und englisch. Ein Videorecorder, darüber der Monitor, wieder Sitzmöbel und eine zusammengerollte Bodenmatte. Ich darf es am nächsten Tag erleben, wie die Matte ausgebreitet wird, 64 Kinder darauf dicht an dicht kauern, einige der Erwachsenen, die für die Kinder da sind, dahinter. Als der Film startet hört man lautes und leises Übersetzen. Vom Deutschen ins Englische laut, vom Englischen leise ins Singhalesische oder Tamilische für die ganz kleinen. Einmal pro Woche wird ein Film gezeigt, Fernsehen gibt es nicht. Soweit ich es mitbekomme, kann hier nur einer deutsch, Herr Bandula. Wo er sein Deutsch gelernt hat, weiß ich nicht, es ist sehr gut und er arbeitet seit Jahren mit Michael Kreitmeir zusammen. Ich nehme an, dass er als seine rechte Hand fungiert. An die Lese- und Filmecke anschließend steht ein Schreibtisch mit PC-Ausstattung. Man kann es dem Platz ansehen, dass hier gearbeitet wird. Gegenüber auf der rechten Seite vier Zimmer. Die Türen sind wehende Vorhänge, ob es dahinter feste Türen gibt, sehe ich nicht, man braucht sie nicht. Irgendjemand weist mir ein Zimmer zu. Ein Doppelbett unter einem blauen Netz, das bis zum Boden reicht, wie ein Himmelbett. Ein dreiteiliger Schrank, Spiegel, Ablagemöglichkeiten, Kleiderhaken. Bin ich wirklich im Dschungel? Meine Plastiktüte lasse ich im Zimmer und gehe weiter durchs Gästehaus. An der Rückseite eine Toilette in landesüblicher Ausführung, daneben ein großzügiges Bad mit WC, Dusche, Waschbecken, Spiegel, Handtuchhalter. Das gesamte Bad gefliest. Handtücher sind da, Seifen, Duschmittel. Eine Küche gibt es, Töpfe, Pfannen, Geschirr, Tassen, Gläser. Ein mit haltbaren Lebensmitteln gefülltes Regal sehe ich und unter der Arbeitsfläche eine breite Ablage voll mit grünen Früchten von Tennisball- bis Fußballgröße. Keine Frucht kommt mir bekannt vor. Vielleicht sind die kleinen Früchte Limonen. Neben der Küche ein kleiner Raum, in dem an vorgezeichneten Plätzen Werkzeug hängt. Hämmer, Sägen, Schraubenzieher, Bohrer, Zangen. Hinter dem Haus wird gearbeitet, ich kann aber nicht sehen was.

Herr Kreitmeir ist bereits voll beschäftigt, bietet mir aber an jemanden zu rufen, der mir alles zeigt. Ich will keine Umstände machen und ziehe alleine los. Beim Verlassen des Gästehauses sehe ich Schuhe und Sandalen vor dem Eingang und merke, dass sich im Haus alle barfuss bewegen, nur ich habe noch meine Schuhe an. Niemand hatte mich deswegen angesprochen. Ich suche nach Staubspuren auf dem sauberen Boden, die können ja nur von mir stammen, kann aber keine finden.

Der Lärm hinterm Gästehaus wird von vier Männern verursacht, die eine Mauer zur Absicherung des Gebäudes bauen wollen. Gespannte Schnüre zeigen den geplanten Verlauf. Sie heben das Erdreich aus, bis sie auf festen Untergrund stoßen. Im Moment sind sie dabei einen Stein zur Seite zu bewegen, der die Ausmaße eines Schreibtisches hat. Vier lange Holzprügel, Steine zum Unterkeilen, Rufe, die man leicht mit Hauruck übersetzen kann und im Nu ist das Ungetüm da, wo sie es haben wollen. Jetzt können sie sich besser bewegen. Einer zerschlägt mit einem gewaltigen Vorschlaghammer den Brocken, es ist ja „nur“ Granit, in Stücke, die man zum Mauerbau einsetzten kann, während die anderen schon wieder am Aushub weiterarbeiten. Sand liegt bereit, weitere Bruchsteine, Zement, eine Tonne gefüllt mit Wasser. Ich schwitze schon beim Zuschauen und die Leute tragen lange Hosen und Hemden, einer trägt so was ähnliches wie einen Wickelrock, dunkelblauer schwerer Stoff, und alle sind sie barfuss. Die Männer sind klein und schmächtig gebaut und reden mit leiser, sanfter Stimmen miteinander. Später erfahre ich, dass sie Tamilen aus dem Kriegsgebiet sind, die Herr Kreitmeir fest angestellt hat. Der Bau von Sicherungsmauern ist lebenswichtig, weil in der Regenzeit solche Wassermassen die Hänge runterkommen, dass sofort die Erosion einsetzt, wo eine Angriffsmöglichkeit besteht. Trotzdem ist es zu Erosionen gekommen und man hat weiter unten, wo das Gelände wieder flacher wird, Steinwälle aufgeschichtet, in denen sich das Erdreich fangen kann. Dann muss es wieder hochgeholt werden. Ein handtuchgroßes Stück Stoff gefüllt mit soviel Erde, wie man tragen kann, wird entweder über die Schulter geworfen, oder es packen links und rechts zwei Kinderfäuste zu und dann rauf damit. Höhenunterschied 150 bis 200 Meter, ich weiß es nicht. Unter dem seitlichen Überdach des Hauses ein blaues Tuktuk und zwei Motorräder.

Ich nehme mir einen Stuhl und setze mich an die Vorderkante der Terrasse. Ein leichter Wind bläst. Im Schatten ist es angenehm. Ich bekomme Gesellschaft. 10 bis15 Meter unter mir ist die nächste Terrasse. Auf ihr stehen mehrere Häuser. In zweien wohnen Kinder, erklärt der kleine Bub neben mir. Er ist kaum fünf, man kann sich gut mit ihm in Englisch verständigen. Ich staune. Im rechten Haus, direkt unter uns, wohnen die größeren Mädchen, „Sunshine House“ kann man an der Türe lesen, von Kinderhand in bunten Buchstaben geschrieben. Gleich anschließend, einen Winkel bildend, das Haus in dem die kleinen Mädchen wohnen. Die Dächer sind weitausladend, wie an allen Gebäuden, überlappen sich teilweise. Bei Regen wird man nicht nass, wenn man von einem Haus zum andern will. Weiter nach links, 5 Stufen höher gelegen, das Küchengebäude, dahinter Wirtschaftsgebäude und ein Waschhaus. Etwas höher wird gerade ein Dachstuhl auf einem Rohbau erstellt. Zusätzliche Toiletten werden gebaut. Im Frühjahr gab es eine Darmgrippe und vor den Toiletten Warteschlangen.

Man kann diese Ebene mit dem Auto erreichen, erklärt mir der Kleine. Die Straße führt rechts herum bis zu ihr runter und sogar die nächst tiefergelegene Ebene ist über sie erreichbar. Dort steht halbrechts unter mir das größte Gebäude, die Schule. Von oben gesehen ein mächtiges Dach, von vielen weißen Säulen abgestützt, auf dem selben weinroten Steinboden stehend, den ich schon kennen gelernt habe und von einem Graben umgeben, der mit dem Regenwasser fertig werden muss. Unter dem selben Dach sind die Schlaf- und Wohnräume der Jungs untergebracht. Gegenüber der Schule, auf der anderen Straßenseite, ein kleineres Haus mit der Aufschrift OFFICE. Mein kleiner Begleiter erklärt mir, dass das Haus dahinter ein Hühnerstall ist, kaum mehr erkennbar hinter merkwürdig peitschenförmigen Gewächsen, die in regelmäßigen Abständen gepflanzt sind. Weiter nach rechts sind keine Gebäude mehr erkennbar. Im Hintergrund geht es nach oben bis auf 1500 Meter. Links vom Hühnerstall, in der Mitte des Blickfeldes, sanft nach unten fallend, ein langgezogener Bergrücken. Ein Weg führt nach unten, von weiteren Gebäuden begleitet. Links neben dem Weg eine Rosenanpflanzung, große runde Behälter, für die Wasserversorgung der Anpflanzungen während der Trockenzeit. Ein Baumhaus gibt es auch, sagt er, aber ich kann es nicht erkennen. Dann folgt ein Volleyball-Spielplatz und anschließend eine mit grünen, lichtdurchlässigen Kunstfasernetzen überspannte Gärtnerei. Ein großer runder Pavillon, offen, aber überdacht, der als Tanzplatz und Sommerschule genutzt wird. Mit Eifer erklärt mir der kleine Fremdenführer alles, was ich ihn frage. Das ganze Umfeld des Pavillons bepflanzt mit den verschiedensten Bäumen und Sträuchern. Kleine gelbe Punkte sind bei jeder Pflanze erkennbar. Auch die merkwürdigen Peitschenbäume sind in großer Menge vorhanden. Mehr vom Grundstück kann man von meiner Position aus nicht überblicken. Ich weiß, dass hier 1999 die ersten Kinder aufgenommen werden konnten. Was ich hier alles sehe, wie ist das möglich?

Ich frage den Kleinen, wann die anderen Kinder aus der Schule kommen. Alle müssen die staatliche Schule besuchen, weiß ich von Michael Kreitmeir, aber was sie dort lernen genügt ihm nicht. Deshalb die eigene Schule, täglicher Unterricht, in Fächern wie Englisch, Mathematik, Computerkurse u.s.w., auch Tanzen, Sport und Musik wird betrieben. Da lernen sie was, denk ich mir, wenn ich nur an die Englischkenntnisse meines Begleiters denke. Der Bub klärt mich auf, dass nur die Tamilen in der Schule wären. Die Singhalesen hätten noch ein paar Tage Ferien, wären unten beim Bäume pflanzen und zeigt mir die Richtung.

Ich will nach unten gehen. Mein Begleiter hüpft die steile Treppe vor mir nach unten. Die einzelnen Stufen sind teilweise dreimal so hoch wie normal, geht nicht anders, das Gelände ist so steil. Mein defektes rechtes Knie macht das nicht mit und ich plage mich abwärts. Gleich am ersten Haus finde ich das Logo des Bayrischen Rundfunks der Aktion „Sternstunden für Kinder“. Am und im Haus spielende Kinder. Einige kommen auf mich zu und fragen mich nach meinem Namen, andere schauen neugierig zur Tür heraus, um dann ihr Spiel fortzusetzen. Mein Begleiter bleibt zurück. Auf dem Weg nach unten zur Schule, hängt frisch gewaschene Wäsche zum Trocknen, teils liegt sie auf den Steinen der Stützmauern. Die Schule trägt die Aufschrift „Füssen“. Ein Bruder Michael Kreitmeirs ist Pfarrer in der Nähe von Füssen, habe ich am Rande mitbekommen. Da ist bestimmt geholfen worden. Durch die Fenster sind Klassenzimmer erkennbar mit Bänken und Stühlen. Es ist sehr dunkel im Gebäude. Computer sind erkennbar, alles ist sauber und gepflegt.

Weiter geht es den Weg mitten auf dem Bergrücken nach unten, vorbei an der Rosenzucht, dem Volleyball Spielplatz, der Gärtnerei links, jetzt sehe ich auch das Baumhaus, am liebsten möchte ich gleich rauf. Benimm dich, denk ich mir. Rechts der Hühnerstall. Die Hühner sind durch einen Maschendraht gesichert. Offensichtlich haben sie das Interesse anderer geweckt. Gibt es hier Füchse? Unter dem Dach der Gärtnerei jede Menge an Jungpflanzen. Jemand kommt dazu und erklärt sie mir, aber ich kann mit den meisten nichts anfangen. Eine große Menge an Pfefferpflanzen verwirrt mich. Ich bilde mir ein, schon mal Pfefferbäume gesehen zu haben. Aber das hier sieht eher nach einem Rankgewächs aus. Auf der anderen Seite des Weges stehen die Peitschenbäume in Reih und Glied. Das Grünzeug, das den glatten Stamm hochrankt, erkenne ich als Pfeffer. Mir fällt der Spruch ein, „geh doch hin wo der Pfeffer wächst“. Beim genaueren Hinschauen sehe ich jede Menge länglicher Trauben aus kleinen grünen Kugeln. So also wächst der Pfeffer. Die Peitschenbäume dienen in der Trockenzeit als Sonnenschirm, zu Beginn der Regenzeit werden die Peitschen, die in einer Höhe von etwa 2 Metern aus dem Stamm wachsen, abgeschlagen, sie treiben sehr schnell wieder nach. Die abgetrennten Äste verwendet man als Bohnenstangen oder für ähnliche Zwecke. Das erfahre ich später von Herrn Kreitmeir und außerdem, dass die Pfefferernte des letzten Jahres 16 Zentner ergeben habe. Unterhalb der Gärtnerei ein runder, etwa 10 Meter Durchmesser großer, überdachter Pavillon. Ein Handlauf verbindet die Stützsäulen, eine Eingangstür, alles aus Holz. Wieder der gleiche, weinrote Steinfußboden, blau gestrichene Tische und Bänke. Links, den steilen Bergrücken hinunter, man kann es nicht überblicken, sind viele verschiedene Sträucher und Bäume zu sehen. Es sind lauter Heilpflanzen, die in der Ayurvedamedizin ihre Anwendung finden. Die gelben Punkte, die man von oben erkennen konnte, sind schulheftgroße Metallschilder. In tamilisch, singhalesisch, englisch und Latein kann man lesen, was hier wächst. Alle Pflanzen wurden unter fachkundiger Anleitung in den Wäldern der Umgebung als Schösslinge oder Samen gesammelt und werden hier gepflegt und aufgezogen - es sind eintausendfünfhundert verschiedene. Die rote Erde um jede einzelne Pflanze ist gelockert, ein weiter Ring von in vier Teile zerschlagenen Kokosnüsse umgibt den Stamm. Damit verhindert man einerseits Erosion und andererseits wird Wasser gespeichert. Ich gehe den Weg am Bergrücken entlang weiter. Vor mir wieder Häuser. Hat man die von oben schon sehen können? Ich weiß es nicht mehr, habe den Überblick verloren. Links unter mir ein schönes Haus, viele Fenster, hell. Eine Frau im weißes Sari sitzt an einer ratternden Nähmaschine und lächelt mich freundlich an, als ich an ihrem offenen Fenster vorbeikomme. Ich zähle 21 „Singer“- Nähmaschinen. Ein in jungen Jahren verstorbener Arzt aus Salzburg hat beigetragen den Bau der Nähschule zu ermöglichen. Eine Gedenktafel erzählt davon. Gegenüber die Häuser der Menschen, die hier arbeiten, aber kein zu Hause haben. Weiter unten unterbricht ein Mann seine Arbeit und zeigt mir die Schreinerei. Vier schwere Maschinen älterer Bauart sind vorhanden. Eine Kreissäge, eine Bandsäge, eine Hobel- und eine Fräsmaschine, robuste Geräte und jede Menge an Ersatzteilen und Zubehör. Alles was es hier an Möbeln, Schränken, Tischen, Stühlen, Bänken, Fenstern, Türen gibt, alles haben sie selbst gemacht, erklärt mir der Mann und ich kann sehen, wie stolz er darauf ist. Dominik arbeitet in der Schreinerei. Er macht Abschiedsgeschenke für die Kinder. Er lässt sich nicht stören, er muss fertig werden. Seitlich neben der Schreinerei liegt überdacht Holz gestapelt. Bretter, Balken, Bauholz, Baumstämme. Man zeigt mir, wie aus den Baumstämmen Bretter gemacht werden. Auf ein Gerüst am steil abfallenden Gelände müssen die Holzriesen gebracht werden, sodass man, einer auf dem Stamm und einer unter ihm, mit einer langen Wiegesäge die Schnitte ausführen kann. Wie bringen die Leute die schweren Baumstämme auf das Gerüst? Die Sägerei bei dieser Hitze! Ich kann es mir nicht vorstellen. Kettensägen sind versprochen, aber bislang nur versprochen.

Mein freundlicher Begleiter will mir unbedingt noch die beiden letzten Häuser zeigen, bevor der Bergrücken steil abfällt. Sie sind von den Arbeitern für Michael Kreitmeir erstellt worden. Ein rechteckiges und ein rundes. Jeweils nur ein Raum. Das rechteckige ein Schlaf- und Arbeitsraum, das runde ein Bad. Ihr ganzes Können haben sie in Bau und Ausstattung gesteckt und alles ist atemberaubend schön. Etwas traurig ist er, dass Herr Kreitmeir fast immer oben in der Nähe der Kinder schläft, damit er sofort da sein kann, wenn was passiert, aber er kann es verstehen.

Von der Terrasse vor den Häusern geht der Blick steil nach unten. Dort läuft der Bergrücken flach aus, man sieht Teile der Einzäunung, ein Ende des Grundstückes nicht erkennbar. Ganz unten ist ein Fluss zu erahnen. Die Anfänge eines Sportplatzbaues sind zu sehen. Viel gerodetes Land. Erosionsgefährdete Böschungen. Bananenpflanzungen, zu jung, um schon Früchte zu tragen. Da und dort Gruppen von Kindern, die sich um einen Erwachsenen scharen. Emsiges Treiben. Ein breiter Weg führt nach unten, ich folge ihm.

Mit einer breiten Hacke, rechtwinklig am Stiel befestigt, wird von einem Erwachsenen ein drei Meter großer Kreis von allem was da wächst samt Wurzeln befreit. Dann wird das Erdreich umgegraben, in der Mitte ein Loch. Zwei Kinder bringen mit ihrer Handtuchtechnik gute Erde, irgendwo wird wohl kompostiert. Ein anderes Kind bringt ein Bäumchen. Sie pflanzen es professionell ein. Ein Bub bringt eine Bohnenstange vom Peitschenbaum, gräbt sie ein, prüft den Halt und bindet das Bäumchen fest. Mädchen schleppen gespaltene Kokosnüsse heran und legen den Schutzwall. Wasser wird herangeschleppt, nicht nur für die Bäumchen. Ein Bub kommt mit einem überdimensionalen Teekessel, durstige Mäuler werden aufgerissen und Wasser eingefüllt, direkt aus der Kanne in den Mund. Es sieht mehr nach Blumen gießen aus. Fünf Gruppen sehe ich bei der Arbeit, viele braune Kreise sind schon fertig, ein Bäumchen, ein Ring. An anderen wird gearbeitet. Das ganze wirkt spielerisch, die Kinder machen ihre Arbeit mit Eifer und Freude. Am Rande der Plantage, nahe am Zaun, stehen einige von den gigantischen Regenbäumen. Äste berühren fast den Boden. Ein gewaltiger, abgerundeter Stein im Schatten der Bäume lädt zum Hinaufklettern ein. Ich setze mich oben hin und schaue zu. Ein Mädchen bringt mir einen Becher Wasser und grinst, als es sieht, wie ich schwitze.

Beim Hochgehen sehe ich noch Unmengen der Pflänzlinge und Berge von bärtigen Kokosnussschalen. Ein ausladendes Dach, rechts unter den Bäumen, erweckt meine Aufmerksamkeit. Als ich die Stelle erreiche, finde ich um einen ebenen Platz einen buddhistischen und einen hinduistischen Tempel und ein großes Kreuz mit Dornenkrone. Von dem Tempelbezirk aus führt eine lange Steintreppe nach oben, neben der Treppe Steinverbauungen, sodass herabstürzende Wassermassen keinen Schaden anrichten können. Bis hier runter zieht sich die Plantage der Ayurvedapflanzen. Ein uralter Mann baut Trockenmauern zur Absicherung des Geländes. Langsam gehe ich die Treppe hoch, bewundere die schön gebauten Trockenmauern im Schatten der zum Teil schon recht großen Neuanpflanzungen, lese die Bezeichnungen, nichts Bekanntes. Die Treppe endet in der Nähe des Pavillons.

Wieder oben am Haupthaus angelangt sehe ich, wie gerade Sand abgeladen wird. Die Mauer ist an einigen Stellen schon über einen Meter hoch, fast einen Meter breit. Sie haben in der Mitte, da wo sie einen rechten Winkel bildet, begonnen und arbeiten nach links und rechts weiter. Der Mörtel wird von Hand bereitet, eine Schaufel und die Hacke, so wie ich sie unten bei der Pflanzung gesehen habe, die einzigen Werkzeuge. In Eimern wird der fertige Mörtel zur Mauer getragen. Zu dritt wuchten sie Steine nach oben. Jeder Stein sitzt, die Lage wird mit einer Lotschnur überprüft. Es geht unglaublich zügig voran.

Man ruft mich zum Essen. Ein kleiner Junge führt mich zum Küchengebäude. An den Stufen Sandalen und Gummischlappen. Diesmal ziehe ich meine Schuhe aus. Drinnen ein Tisch, sechs Stühle, aber die doppelte Menge hätte auch Platz, so groß ist er. An der linken Wand steht ein breiter Küchenschrank, die Schranktüren sind nicht verglast, statt dessen ein engmaschiges Gitter. Geschirr und gut verschließbare Gläser, gefüllt mit Gewürzen, sind unter anderem erkennbar. Dann ein Spülbecken, daneben eine Stellage gefüllt mit frisch gespültem Geschirr. Rechts unter einem breiten Fenster eine Arbeitsfläche, so großzügig, wie man sie in einer Großküche findet. Darunter zwei Ablageflächen, wohlsortiert Gemüse und Obst, jeweils Berge davon. Das meiste davon ist mir unbekannt. Rechts hinten die Kochstelle. Unter einem 2 Meter breitem Rauchfang offenes Feuer. In Ringen aus gebranntem Ton, vorne offen, brennt rauchend das Holz, darüber Töpfe und Woks. Der Küchenraum ist absolut rauchfrei. An den Wänden unter dem Dachgebälk sitzen Geckos. Auf dem Tisch sind Teller gedeckt, Besteck, eine breite, flache Schale, gefüllt mit Reis und mehrere Schalen, in denen sich Unbekanntes befindet. Zum Trinken gibt es Wasser. Herr Kreitmeir, Dominik und ich nehmen Platz. Dann gesellt sich Herr Bandula dazu. Dominik erklärt mir den Inhalt der kleineren Schalen, während sich die Anderen schon bedienen. Ich kann mit den Bezeichnungen nichts anfangen, nur eines bleibt hängen: Das Dunkelgrüne ist sehr scharf, das Hellgrüne schmeckt wie Bohnensalat, das Gelbe ist eine Gemüsesauce, damit man den Reis nicht so trocken essen muss und das Weißliche so was wie Hirse, vermischt mit Zwiebeln und Gewürzen. Ich hole mir von allem auf meinen Teller. Zu meinem Schrecken sehe ich, dass alle mit den Fingern essen. Das trau ich mir nicht zu und um ein Chaos zu verhindern, greife ich zum Besteck. Das Bunte schmeckt hervorragend zum Reis. Die Frauen, die in der Küche arbeiten, tragen lange Kleider und sind ausnehmend hübsch. Sie servieren zur Nachspeise Papayas von der Größe eines viertel Rugbyballes mit einer Limone und einem Teelöffel. Dazu gibt es Tee. Ich warte, bis ich sehe, wie man die Papaya isst und mache es dann nach. Mit dem Teelöffel wird mitten aus der Frucht ein halbkugelförmiges Stück herausgelöst, die Limone über der Vertiefung ausgepresst und dann arbeitet man sich von dieser Vertiefung nach außen, sodass jedes Stücken in einer Mischung aus Limonen- und Papayasaft schwimmt. Das schmeckt!

Wir sitzen noch bei Tisch, Herr Kreitmeir und Herr Bandula besprechen Dinge, von denen ich nichts verstehe. Ich schaue mich noch neugierig im Küchengebäude um, mein Geschirr wird abgedeckt und gespült, dann stehen die anderen auf, jeder nimmt sein Geschirr und spült es selbst ab. Schon wieder habe ich mich danebenbenommen. Michael Kreitmeir sagt mir, dass Besuch erwartet wird. Dominik wird ihnen das neue Grundstück „Little Smile 2“ zeigen und ich könne mich anschließen, wenn ich wolle. Natürlich will ich das.

Ich gehe hoch zum Haupthaus, während wir gegessen haben, ist die Mauer um ein beträchtliches Stück gewachsen. Machen die denn gar keine Pause? Als ich ins Haus komme, höre ich Dominik im Gespräch mit Leuten. Die Art, wie Englisch gesprochen wird, kommt mir vertraut vor und ich mache eine Bemerkung wie „This sounds very British“. „Yes, we are“ antwortet eine der beiden Volontärinnen aus Cardiff, die irgendwo in der Gegend im landwirtschaftlichen Bereich arbeiten. Sie sind der erwartete Besuch. Herr Kreitmeir fragt drei kleine Buben, ob sie Baden gehen wollten und schickt sie mit uns mit, als sie zu jubeln beginnen. Wir brechen sofort auf.

Hoch zur Straße, in Richtung Koslanda und in der Nähe des Krankenhauses links nach unten führt uns Dominik Gleich sind wir wieder im Dschungel, im August 2002 erstandenen Grundstück „Little Smile 2“. Die ersten Schritte der Erschließung sind gemacht. Wir bewegen uns auf der Trasse, die zur Straße werden wird, nach unten, bis zu einer gerodeten, planierten Ebene von der Größe eines Fußballfeldes. Hier wollen Sie eine Ayurvedaklinik bauen. Was noch alles? Weiter bergab führen perfekt gesetzte Steintreppen. Die Buben werfen Holzstücke in die Bäume und Mangos landen am Boden. Dominik und die beiden Waliserinnen diskutieren über die Eigenschaften und Qualitäten der Bäume links und rechts der Treppe. Zwischendurch höre ich „mahogany“ und bitte sie, mir den Baum zu zeigen. Ich kenne Mahagoni doch nur von Möbeln. Drei Männer sind mit dem Weiterbau der Steintreppe beschäftigt. Wir kommen zu einem Haus, die Kinder liefern die Mangos ab. Wohnen hier die Treppenbauer? Affen sind in den Bäumen, ein kleiner Bach fließt am Haus vorbei und mündet gleich darauf in einen Teich, der voll ist mit lauter Wasserpflanzen. Dem Haus gegenüber eine Einzäunung mit einem Tier, das einem Reh ähnlich ist. Eine Frau kommt aus dem Haus, ruft das Tier und hängt ihm ein Glöckchen um. Fragen scheitern an den sprachlichen Unzulänglichkeiten auf beiden Seiten.

Das Rauschen des Flusses ist schon zu hören. Um uns nie gesehene Baumriesen, abgerundete Granitbrocken von der Größe eines Hauses, der weitere Weg zwischen den Felsen versperrt durch dichtes Elefantengras, das täglich 30 cm wächst. Die Buben reißen Lianenstücke zurecht und schlagen eine Bresche in das grüne Dickicht. Dominik macht uns darauf aufmerksam, dass es hier Blutegel gibt. Ich nehme das nicht so ernst, denn Blutegel leben ja im Wasser, wie ich weiß, und so nass ist es hier doch gar nicht. Ein Entsetzensschrei einer der Britinnen, Blutegel an den Beinen und zwischen den Zehen, die sie mit Panik im Gesicht hektisch, aber mühelos abstreifen kann. Dann sehe ich die Blutegel am Elefantengras. Nicht größer als ein halbes Zündholz, unheimlich beweglich, halten sie sich mit dem einen Ende am Gras fest, während das andere Ende unaufhörlich rotiert und man den Eindruck hat, dass sie zum Sprung ansetzen. Was es nicht alles gibt. Ich habe Socken und Schuhe an und lange Hosen. Mich erreichen sie nicht. Trotzdem renne ich schnell durch die Elefantengrasschneise. Dann sind wir am Wasser. Ein schönes Fleckchen auf unserer Welt. Wir sind in einer sonnendurchfluteten Felsschlucht. Von oben kommt ein Wasserfall, vor uns versperren Felsen kurzfristig den Lauf des Wassers, das dort, wo ich stehe, weiter nach unten stürzt, um runde Felsbrocken herum und dann bald nach einer Biegung wieder verschwindet. Viel Wasser ist hier aufgestaut und lädt zum Baden ein. Dominik und die Kinder sind schon drin, die beiden Damen sind auch vorbereitet. Unter ihrer Kleidung tragen sie Bikinis. Eine wilde Wasserschlacht beginnt, jeder gegen jeden. Ich ziehe mein Hemd aus und setze mich auf einen der runden Felsen. Die Buben toben, klettern auf Felsen, springen hinein, können kurzfristig nicht stehen, weil das Wasser zu tief ist, in der Strömung erreichen sie prustend und paddelnd gleich wieder eine Sandbank, auf der sie stehen können. Ob sie wohl schwimmen können? Aber ich mach mir keine Sorgen und erinnere mich daran, dass ich genauso das Schwimmen gelernt habe. In der Nähe von Garmisch, in der Loisach. Nur die Temperaturen waren anders.

Wir steigen wieder die Treppen nach oben, kommen zu dem kleinen Haus und werden mit einer großen Tasse Tee überrascht, sitzen auf einer Bank vor dem Haus, die letzten Sonnenstrahlen erreichen diesen Platz. Das ist für die Buben zu langweilig. Im Nu hängen sie oben in den Bäumen, von Affen nicht unterscheidbar in ihrer Wendigkeit und sammeln rote Früchte, die an den äußersten Enden der Äste hängen. Den Großteil der Ernte bringen sie ins Haus und jeder von uns bekommt eine Handvoll. Die Früchte schmecken sehr gut. Wir brechen wieder auf und ich schau in meine Geldbörse, hab nur wertloses Zeug dabei. Plastikkarten und Euros, keine einzige Rupie. Die Geldbörse lasse ich gleich wieder verschwinden und hoffe, dass mich niemand beobachtet hat. Nicht einmal ein paar Rupien für den Tee kann ich dalassen, ärgere ich mich. Die Treppenbauer arbeiten immer noch. Wie kommen denn die Steine, die sie verbauen, hier her? Entweder vom Fluss unten hier rauftragen, oder von der gerodeten Fläche weit oben hier runter. Prost Malzeit! Oben angekommen sehe ich einen Berg von Bruchsteinen.

Bald sind wir wieder in „Little Smile 1“. Ich verschnaufe noch ein bisschen und geh hinter das Gästehaus. Der Dachstuhl auf den neuen Toiletten ist fertig, die Hälfte der Mauer steht und es wird immer noch gearbeitet. Ich komm aus dem Staunen nicht mehr raus. Leider kann ich mich mit den Leuten nicht unterhalten, sie können nicht Englisch. Die Rücktüre der Küche des Gästehauses ist auf und als ich hineinschaue, sehe ich eine der Frauen, die ich vom Mittagessen kenne, wie sie viele von den Früchten, die unter der Arbeitsfläche gelagert sind, auspresst. Sie reicht mir ein großes Glas, der Saft schmeckt nach Limonen, Zitronen, Mandarinen, Orangen, Pampelmusen und Melonen. So was Gutes. Ich genieße den Saft, bring das Glas in die Küche und spüle es ab, bedanke mich nochmals und geh dann ums Haus zum Vordereingang. Im Eingangsbereich sitzen die beiden Britinnen, Dominik, Herr Bandula und Herr Kreitmeir. Ihr Gesprächsthema ist der ökologische Landbau, ich setze mich auf die Steinstufe und höre zu. Herr Kreitmeir steht dann irgendwann auf. Er will runter zum Tempelbezirk, wo sich jeden Tag um diese Zeit die Kinder zum Gebet versammeln, wir könnten mitkommen, wenn wir wollen. Alle wollen wir und machen uns auf. Als ich aufstehe, sehe ich, dass mein rechtes Hosenbein ab dem Knie eine einzige Blutsuppe ist und der linke Fuß sieht genauso aus. Die Blutegel haben mich also doch erwischt. Ich hüpfe auf einem Bein bis zum Bad, stell mich unter die Dusche, suche die Blutegel, kann sie entfernen, aber es dauert lange, bis das Bluten einigermaßen aufhört. Wasche meine Hose mit Seife, das Blut lässt sich zu meiner Überraschung problemlos auswaschen, keine Spur mehr zu sehen. Inzwischen sieht es im Bad eher wie in einer Schlachterei aus, ich spritze mit der Dusche das ganze Bad sauber und finde einen Gummischieber, mit dem ich alles in Ordnung bringen kann. Auf dem Weg zu meinem Zimmer merke ich, dass vom Vorraum bis zum Bad Blutspuren auf dem Boden sind. Ich finde Putzlappen und beseitige auf den Knien die Flecken. Dann hänge ich meine Hose auf, schlüpfe in meine kurze Hose und beeile mich zum Tempelbezirk zu kommen, finde die lange Steintreppe nicht und komme auf einem Umweg unten an, als man sich schon wieder auf den Weg nach oben macht. Dominik sagt mir, ich solle mich beeilen wieder nach oben zu kommen und zeigt auf den Gegenhang, wo graue Schleier eines Regenschauers einfallen. Nur bis zum Pavillon komme ich, bin schon tropfnass, als es richtig zu schütten anfängt. Unter dem Dach warten etwa 20 Kinder und ich den Schauer ab. Die Buben und Mädchen spielen Fangen, es geht um und über die Bänke und Tische, nur die Regeln leuchten mir nicht ein. Jeder fängt jeden. Das Spiel ist ausgelassen und alle sind dabei. Die Buben sind etwas grob. Sie fangen die Mädchen bei den Zöpfen und sie lassen es sich gefallen. Zu Hause gäbe es da Zoff. So schnell, wie der Wolkenbruch da war, war er wieder weg. Beim Runtergehen, vor wenigen Minuten, schien noch die Abendsonne und ich kann mich nicht erinnern eine Wolke gesehen zu haben. Verrückt! Ich gehe zurück bis zur langen Treppe und betrachtete die Wassermassen, die gebändigt neben der Treppe nach unten tosen. Die Verbauung ist perfekt. Entlang der Straße, die bis unter die Schule runterführt, habe ich im oberen Bereich auch eine Verbauung gesehen. Da will ich noch hingehen. Die Straße unterhalb der Schule ist von einer Hecke eingefasst und als ich durch sie durchschauen kann, ist der ganze sanft abfallende Hang eine einzige Gemüseplantage. Tomaten, hochgebunden und Paprika und was man sich vorstellen kann. Eine Bewässerungsanlage ist auch installiert. Es ist unglaublich. Die Wassermassen neben der Straße schießen in einer tiefen, betonierten Rinne nach unten, ich kann nicht sehen wo hin.

Als ich oben ankomme, wird zum Abendessen gerufen. Die beiden Britinnen, Dominik und ich folgen dem Ruf. Herr Bandula ist nicht da. Herr Kreitmeir hat Probleme mit seinem Magen und will nichts essen. Er fragt mich, ob ich von den Tabletten, die er im Hotel von uns bekommen hatte, noch welche dabei hätte - leider nein. Zum Abendessen Reis, Buntes, Papaya und Tee. Die Britinnen essen auch mit den Fingern, ich bleibe beim Besteck.

Nach dem Abendessen, es ist inzwischen dunkel, geh ich noch ein paar Schritte um die beiden Häuser, die gleich neben dem Küchengebäude stehen. Im „Sunshine House“ tanzen Mädchen, ich schaue zu. Wie anmutig sie sich bewegen. Als ich aus dem Dunklen heraustrete, sieht mich eine von ihnen, kommt heraus und holt mich ins Haus. Eine der beiden Frauen, die mit den Kindern zusammen hier leben, zeigt mir die Räume. Ein Aufenthaltsraum, da wo sie gerade getanzt haben. Bücher sind da, Zeichnungen und Bilder, von den Kindern beeindruckend gut angefertigt, erzählen von ihrem Leben und ihren Träumen. Dreifachstockbetten im nächsten Raum. Natürlich selbstgemacht, natürlich schön, natürlich solide. Dann Bänke, Tische, Stühle und ein großes Wandregal mit Fächern für jedes Kind, darunter die Namen, in denen wohlgeordnet die Schulsachen stehen. Ich frage, ob ich ein Schulheft ansehen darf und kann nicht einmal die Schrift lesen. Es wird gerade aufgeräumt und sauber gemacht. Ein täglich wechselnder Dienst. Waschgelegenheiten sind erkennbar, aber da geh ich nicht rein, ich bin ja bei den Damen. Alles ist mehr oder weniger in einem Raum und doch ist alles voneinander getrennt. Am anderen Ende des Hauses sind kleinere Räume und ein Platz, an dem gegessen wird und dann die Türe. Es ist ein Wohlfühlhaus. Aber es ist eng in ihrem Paradies, es leben dort viele Kinder und zwei Erwachsene.

Im Haus der Kleinsten ist gerade Fütterung der Raubtiere. Die Kinder sehen mich nicht. Einer füllt Teller mit Reis und Buntem. Ein zweiter serviert. Als jeder einen Teller vor sich hat, nehmen sie sich alle bei der Hand und die hellen Kinderstimmen piepsen, jede einzelne Silbe betonend, auf Deutsch „Wir wün-schen ei-nen gu-ten Ap-pe-tit“. Verblüfft antworte ich: „Guten Appetit“ Wusch. Sämtliche Köpfe waren bei mir. „Kaminonkel, Kaminonkel, Kaminonkel“, höre sie rufen, stehe ratlos da, ich rauche doch nicht und außerdem glaube ich nicht, dass sie so ein Wort in Deutsch in ihrem Wortschatz haben. Da dreht einer den Ruf um und ich verstehe. „Uncle, come in.“ Ich folge der freundlichen Aufforderung und setze mich zu ihnen. Zur Nachspeise gibt es Papaya aber keinen Tee. Sie bekommen den Saft ausgepresster Früchte, den ich schon probiert habe. Während der ganzen Zeit erzählt mir eine der beiden jungen Frauen, die hier im Haus wohnen, von den Kindern, nur Oberflächliches. Ich habe aber schon von einigen Schicksalen gehört, kann Verknüpfungen machen, kämpfe mit der Fassung und verlasse das Haus. Da sitzen sie und einige sind noch nicht zu einem little smile fähig.

Als ich wieder oben im Haupthaus bin, ist man gerade dabei, die beiden Britinnen zu verabschieden. Sie hatten im Eifer ihrer Gespräche die letzte Busverbindung verpasst, eine andere Transportmöglichkeit war für sie organisiert worden. Im Regal mit den Videobändern finde ich mehrere Filme von Michael Kreitmeir über Sri Lanka und „Little Smile“ von 1999 bis 2001. 2002 ist entweder noch nicht fertig, oder nicht da. Ich frage ihn, ob ich sie mir anschauen dürfe, mit dem Film „1999“ in der Hand. Er habe diesen selbst lange nicht mehr gesehen, meint er, und möchte gerne da und dort noch mal einen Blick hinein werfen, aber jetzt mache er seine Abendrunde bei den Kindern. Ich gehe mit.

Im Haus der Kleinsten ist die Vorbereitung zum Schlafengehen fast abgeschlossen, aber es ist noch Betrieb wie in einem Bienenhaus. Thatha rufen einige mit freudigen, strahlenden Augen, kommen angelaufen und nehmen ihn bei der Hand, wollen ihm dies oder das zeigen. Andere halten sich ruhig im Hintergrund und schauen mit großen Augen zu ihrem Thatha. Jedem einzelnen Kind wendet er sich zu. Es gibt Streicheleinheiten, Schulterklopfen, Lob und Anerkennung und liebe Worte aus der Distanz, denn es sind Kinder dabei, die einen körperlichen Kontakt noch nicht ertragen können, nicht einmal ein liebevolles Streicheln. Jedes Kind kennt er so in- und auswendig, als ob er ihr Vater wäre. Thata heißt Papa, Vater in singhalesisch. Er ist ihr Thatha.
Die größeren Kinder und die Erwachsenen nennen ihn Lukuthatha. Loku heißt groß und ich weiß nicht, ob sie ihn „großer Vater“ nennen, weil er so ein Riese ist, mit seinen fast 2 Metern Körpergröße und der Figur eines Zehnkämpfers oder weil sie wissen, was für ein großartiger Mensch er ist und wie er für sie kämpft und dass sie ohne ihn chancenlos wären und einige von ihnen nicht mehr am Leben. Beides trifft zu.

Ich kann nicht die richtigen Worte finden, um die Beziehung zwischen Lokuthatha und den Mädchen im „Sunshine House“ zu beschreiben. Sie lieben ihn, sie verehren ihn, sie bewundern ihn, sie schwärmen für ihn, es sind ja auch Teenager unter ihnen, junge Damen, und er zeigt es ihnen allen, dass er sie auch mag. Man ist in einem Haus des Sonnenscheins, auch wenn es hier ebenfalls ernste Gesichter gibt, auch wenn da und dort Entscheidungen anstehen, wie es weiter gehen soll, Berufsausbildung, weiterführende Schule, ungewisse Zukunft.
Bei den größeren Buben, die in der Schule untergebracht sind, herrscht ein anderer Ton. Auch sie mögen ihn, auch ihnen zeigt er, dass er sie mag. Aber hier ist auch mal eine straffe Hand gefragt, denn die Lausbuben unter ihnen treiben es sonst zu bunt. Es fallen deutliche Worte, dass jetzt Schluss ist mit den Faxen und sofort aufgeräumt wird und dann waschen und ab ins Bett, aber Marsch, Marsch.

Dann schau ich mir zwei der Filme an. „1999“ und „2001“. Hinter mir und neben mir ist ein ständiges Kommen und Gehen. Dominik, Herr Bandula, Michael Kreitmeir, einige von den Kinderbetreuerinnen, die jungen Frauen aus der Küche. Eigentlich haben sie alle noch zu tun, aber offensichtlich haben viele den Film „1999“ lange nicht mehr gesehen, bleiben für eine Weile stehen oder setzen sich kurz hin, sind selbst erstaunt, wie es damals hier aussah. Beim ersten Film finde ich mich überhaupt nicht zurecht. Nur Weniges von dem, was ich heute gesehen habe, kommt mir bekannt vor, erkenne einige der Kinder, die heute in „Little Smile“ leben und bin fassungslos. Die Kinder 1999 und heute, das Kinderdorf 1999 und heute. Nach dem zweiten Film sitze ich alleine da. Zwischendurch hat mir Herr Kreitmeir zu den einen oder anderen Bildern Hintergrundinformationen gegeben und nach dem Film erzählt er mir noch von den Dingen, die nicht im Film zu sehen waren. Von den Kindern, wo sie herkommen, zeigt mir Fotos, wie sie vegetiert haben, dass er ja nur ganz wenige aufnehmen kann und dass von denen, die er nicht aufnehmen konnte, heute eine ganze Anzahl nicht mehr lebt. Fotos von den grauenhaften Zuständen in den tamilischen Kriegsgebieten, den ausgemergelten Menschen und den zerstörten Häusern, die doch sowieso nur Hütten waren. Er erzählt mir von Kindern, deren Väter verschwunden oder im Krieg umgekommen sind, die Mütter absolut mittellos. Das sind viele und die Mütter können ihre Kinder nicht ernähren, geschweige denn kleiden. Von Kindern, die ganz ohne Eltern sind, weil sie entweder umgekommen oder weggelaufen sind. Ich stelle beklommen viele Fragen und bekomme erschütternde Antworten. Nicht nur in den Kriegsgebieten sieht es so aus. Auch in der Umgebung herrscht bitterste Armut in der untersten Schicht der Kastengesellschaft. Er erzählt mir von einem Kind, das mit ansehen musste, wie die Eltern bei lebendigem Leib gehäutet wurden, von einem Kind, dessen Eltern von wilden Elefanten zertrampelt wurden, von kleinen Mädchen, die im Alter von drei oder vier Jahren regelmäßig sexuell missbraucht worden waren, von einem Mädchen, das sich schwerste Brandverletzungen zugezogen hatte, die unbehandelt bleiben mussten, weil niemand sich um sie kümmern konnte und die Wunden bereits von Ungeziefer befallen waren, als er sie fand. Alle diese Kinder leben heute in „Little Smile.“ Als er mir die Bilder zeigt, kann ich es nicht ertragen. Und er geht hin und holt die Kinder da raus, wenn wieder neuer Platz im Kinderdorf geschaffen ist. Er zeigt mir Baupläne für ein neues Kinderhaus, jetzt will er zweistöckig bauen, damit er mehr Kinder aus dem Elend holen kann. Sicher, er bekommt Hilfe, aber es reicht bei weitem nicht. Sein ganzes Geld steckt hier im Kinderdorf, er arbeitet ein halbes Jahr in seinem Beruf, um weiterfinanzieren zu können und ein halbes Jahr ist er hier, damit er sich um die Kinder und den weiteren Fortgang kümmern kann. Die Kinder zu ernähren sind die geringsten Kosten. Zentnerweise kauft er Reis und andere Lebensmittel, auch jeden Tag frisches Brot. Die Einnahmen sind noch sehr gering. Sie verkaufen zum Beispiel den Pfeffer, wenn die Preise höher sind, verkaufen jeden Tag 200 Rosen, bis an die Küste müssen sie damit. Die Rosen erzielen gute Preise. Die Sache rentiert sich. Ich versuche mitzurechnen als er Einnahmen und Ausgaben in Rupien nennt, zwei Nullen weg, dann sind es Euro und schnell noch mal zwei, dann sind es DM und ich habe eine bessere Vorstellung. Die Ausgaben werden noch lange sehr hoch sein, bei all dem, was gebaut wird und noch gebaut werden muss. Etwa 350 Menschen leben zur Zeit in und von dem Projekt, wenn man an all die Beschäftigten und deren Familien denkt. Ich komme in etwa zu der benötigten Summe, die er genannt hat.

Er erzählt von den Plänen der Ayurvedaklinik in „Little Smile 2“und von seinem Ziel, für das Gesamte Projekt wirtschaftlich Autarkie erreichen zu wollen und bin überzeugt, das ist machbar. Im Laufe des Abends haben wir endgültig das „Sie“ über Bord geworfen, er ist der Michael und ich bin der Heinz. Ich habe innerlich beschlossen, dass ich ihm helfen werde, habe aber nicht die geringste Vorstellung, wie ich das anfangen soll, denn die Größenordnung, um die es hier geht, ist kein Pappenstiel. Ich sage ihm aber nichts davon.

Dann geh ich Schlafen. In der Nacht von morgen auf Sonntag werden wir nach Colombo fahren, an Schlaf nicht zu denken und dann der Flug über Frankfurt nach München. Bis wir zu Hause am Schloßberg sein werden, wird es nach hiesiger Zeit Montag Morgen 4 Uhr sein. Ich bin müde, lege mich in mein Himmelbett, aber es dauert trotzdem noch lange, bis ich einschlafe.

Was für ein Tag.

Samstag 26.04.2003

Ich habe geschlafen wie ein Stein, es fängt gerade an zu dämmern, als ich wach werde. Irgendwo im oder auf dem Dach veranstalten Streifenhörnchen ein Wettrennen. Man mag sie hier nicht besonders und nennt sie Baumratten. Sie werden wohl auch an den Samenkapseln der Heilpflanzen interessiert sein. Im Haus rührt sich sonst nichts, ich steig aus meinem Himmelbett und nach einer Katzenwäsche schleiche ich auf die Terrasse, nehme mir einen Stuhl und setze mich, wie gestern, an die Vorderkante der Terrasse. Ein himmlischer Frieden unter mir, geschützt von einem starken Stacheldrahtzaun und bewacht von einem Nachtwächter, der oben am Eingangstor wohnt. Weder ihn, noch das Häuschen kann ich sehen, aber es ist beruhigend zu wissen, dass die Kinder sicher schlafen können. Über mir kreisen zwei große Greifvögel, doch die Hühner sind auch ungefährdet. Plötzlich steht Michael hinter mir. Er trägt einen weißen, bis zum Boden reichenden langen Wickelrock, ich weiß heute noch nicht, wie man den nennt, dazu ein weißes Hemd. Wäre er nicht so groß und blond und anderer Hautfarbe, man könnte ihn für einen Singhalesen oder Tamilen halten. Wie mein Vater sitzt du da, sagt er, das war auch sein Lieblingsplatz, wenn er da war.

Unten in der Rosenzucht werden Rosen geschnitten, der Arm des Gärtners füllt sich langsam mit langstieligen Rosen der verschiedensten Farben. An den Baustellen beginnt man mit der Arbeit, man kann kaum etwas hören, so ruhig geht es zu. Die ersten Kinder sind zu sehen. In Zweiertrupps kehren sie mit selbstgemachten Besen in und ums Haus. Der Kamin des Küchengebäudes fängt zu rauchen an. Zwei Buben schieben Fahrräder nach oben, große Holzkisten auf dem Gepäckträger. Sie sind unterwegs Brot zu holen, Michael ruft ihnen aufmunternde Worte zu. Einer der Buben war überall ausgerissen, wo man ihn zuvor hin gesteckt hatte, hier kommt er immer wieder und als sie dann wiederkommen, die steile, holprige Straße herunter, bremsend was das Zeug hält, die Brote in den Kisten mehr fliegend als liegend, dauert es nicht mehr lange, bis zum Frühstück gerufen wird.
Zum Frühstück gibt es Reis und Buntes, gebratene Süßkartoffeln, dazu Tee und Brot. Ich erinnere mich wie Michael gestern davon gesprochen hatte, dass das Essen ein Problem sei, jeden Tag dasselbe. Die Frauen in der Küche können nichts anderes zubereiten. Sie kennen nichts anderes und wenn sie es kennen würden, es gibt keinen Backofen, kein Bratrohr, keinen Herd, um vielleicht mal einen Auflauf zu machen, ob Nudelauflauf oder Reisauflauf, mit Obst oder mit Gemüse. Nudeln sind hier extrem teuer, habe ich auf einer Packung gelesen, die ich oben im Gästehaus gefunden habe. Ob sie wissen wie man sie selbst macht? Mehl ist nicht teuer, weiß ich von Herrn Bandula, Eier produzieren sie selbst, Öl und Salz haben sie sowieso in der Küche. Ich koche selber sehr gerne und habe sofort ein paar Rezeptideen, aber wenn ich mir vorstelle, ich müsste mich jetzt hinstellen und für 100 Personen ein Mittagessen zubereiten. Selbst wenn es Michael gelingen sollte, einen Koch zu engagieren, kann er unter den gegebenen Bedingungen den Speiseplan entscheidend erweitern? Ob man helfen könnte, wenn ich zu Hause einen Ofensetzer suche, einen vom alten Schlag, der noch weiß, wie man einen holzgefeuerten Brotbackofen baut, in dem man nicht nur Brot backen kann? Wenn ich ihn finden kann, wie den Ofen hier aufbauen? Ich kann mir gut vorstellen, was ein Koch damit anfangen könnte. Aber ich bin überzeugt, dass auch die Frauen hier in der Küche schnell die Möglichkeiten nutzen und zu Küchenzauberinnen werden würden. Zunächst denke ich an eine robuste, handgetriebene Nudelmaschine, stelle mir einen Teller dampfender Bandnudeln mit einer leckeren Gemüsesoße vor, garniert mit frisch gehackten Kräutern, aber halt, wir sind beim Frühstück. Ich esse zwei Scheiben Brot, trinke meinen Tee und halte meinen Mund.

Ich hole meinen Fotoapparat und mache mich auf, in aller Ruhe einen Tag im „Children Village Little Smile“ zu erleben. So angenehm die Nachttemperaturen waren, um die 20°C, so schnell wird es heiß, sobald die Sonne steigt. Wir sind wenige Grade nördlich des Äquators, das hatte ich zufällig am Flughafen in Colombo gelesen, wo eine Tafel mit den Ostskoordinaten steht. Beim Faulenzen im Hotel hatte ich den Schatten eines senkrecht stehenden Pfostens um die Mittagszeit beobachtet. Die Sonne steht bereits 2 bis 3 Grad nördlich unserer Position, also mittags fast senkrecht über uns. Hinter dem Gästehaus, das sie hier alle „Main House“ nennen, und es ist ja auch der Dreh- und Angelpunkt, wächst die Sicherungsmauer. Es ist einfach faszinierend zu sehen, wie sie zügig Stein für Stein mit starkem Arm und sicherem Auge platzieren. Die Menge an Mauern, die noch gebaut werden muss, bis kein Tropenschauer mehr Schaden anrichten kann, erscheint mir schier endlos. Ich überlege so vor mich hin, ob es wohl möglich wäre, zu Hause ein Dutzend junger Burschen zu finden, die bereit wären, statt große Ferien zu machen, hier Knochenarbeit zu leisten? Sie müssten allerdings eine Kondition mitbringen, die sie in die Lage versetzte, täglich dreimal 40 Kg auf die Zugspitze zu schleppen und das Tag für Tag. Schlafen würden sie auf einer Iso-Matte am Boden eines der Häuser, zu Essen und Trinken gäbe es, was es hier gibt. Für die Flug- und Transferkosten hätten sie selbst aufzukommen. Ich mache eine Kostenrechnung, so Daumen mal Pi, und überlege, wie viel Mauer für dieses Geld gebaut werden könnte von Leuten, die hier in Koslanda keine Arbeit finden, und vergesse schnell wieder den absurden Gedanken.

Diesmal vermeide ich die steile Treppe und gehe lieber über die Straße nach unten. Im „Sunshine House“, bei den Ladies, ist niemand zu sehen. Alles ist tiptop aufgeräumt, die Böden feucht rausgewischt, Fenster und Türen geöffnet und gesichert. Im Haus daneben, dem „Lucky House“ ist Kindergartenbetrieb. Die Kinder spielen vor und im Haus, die Kleinste, sie ist gerade zwei, wird liebevoll umsorgt. Inzwischen kann ich mit Kaminonkel etwas anfangen und setze mich zu ihnen. Fast alle Schmusepuppen und Stofftiere, die sie umklammern, darf ich bewundern und wenn ich nicht verstehen kann, was mir die Allerkleinsten mitteilen wollen, dann ist schnell so ein kleiner Spatz da, der es mir ins Englische übersetzt. Ich staune schon nicht mehr.

Hinter ihrem Haus, dem Küchen- und den Wirtschaftsgebäuden, befindet sich ein mehrere Meter breiter Weg, abgeschlossen von einer hüfthohen Steinmauer. Dann geht es steil nach unten und man kann gerade noch die Spitzen von Peitschenbäumen sehen. Ob sie da auch Pfeffer angebaut haben? Natürlich und auf dem Weg dahin finde ich flache, aus Palmblättern geflochtene Körbe gefüllt mit Pfeffer, der in der Sonne zum Trocknen liegt. Welchen Verkaufspreis sie wohl für die 16 Zentner der letzten Jahresernte erzielen konnten? Ob zu Hause ein Großhandel zu gewinnen wäre die Ernte abzunehmen? Könnte sich das rechnen? Wie hoch sind die Transportkosten, der Zoll, geht das überhaupt?
Unten in der Schule, bei den Buben, ist ebenfalls alles ausgeflogen bis auf zwei, die mit Putzen und Aufräumen schwer zu tun haben. Diesmal muss ich grinsen und sie können das gar nicht lustig finden, denn sie wissen, dass sie schon noch ein Weilchen zu tun haben. Mit Putzlappen und Besen hantieren sie recht gekonnt, man sieht, dass es nicht das erste Mal ist und die Begeisterung steht ihnen ins Gesicht geschrieben.
Nicht weit neben der Schule ist die Rosenzucht. Der Gärtner wickelt jede einzelne Blüte der heute geernteten Rosen, nachdem er sie in Form gebracht hat, trichterförmig in Papier und verklammert es. Eine Frage nach dem warum und wann und wo die Rosen verkauft werden, scheitert wieder an der Sprache. Erst am Abend, als mich Michael Zeuge eines Bewerbungsgesprächs werden lässt, wird mir die Rentabilität des Rosenverkaufes so richtig bewusst. Ich realisiere, dass der Verkaufspreis von zehn Rosen gleichzusetzen ist mit dem Tagesverdienst eines ordentlich bezahlten Angestellten.
Dagegen rechnet sich die Hühnerhaltung nicht, hat mir Michael erzählt, noch nicht. Das Federvieh muss überdacht und eingezäunt gehalten werden. Ohne Überdachung würden die Hühner in der Regenzeit zu Sumpfhühnern, in der Trockenzeit zu Brathühnern und ohne Schutzzaun wäre die Vermehrungsrate stark negativ, denn es gibt Leoparden und Wildkatzen Noch ist der Hühnerstall klein und das Futter muss zugekauft werden. Gestern habe ich mitbekommen, dass sie kein Produkt aus der Schreinerei verkaufen dürfen. Gilt das auch für Eier und Geflügel? Wenn nur das Baumaterial nicht so teuer wäre.

Dann setze ich mich auf eine Bank im schattigen Pavillon und versuche mir einen Reim auf all die Bäumchen, Sträucher und Büsche der Ayuredaanpflanzung zu machen. Noch sind die Pflanzen zu jung um große Ernten zu erlauben, auch wenn ich da und dort schon reife Früchte sehen kann. Ich weiß inzwischen, dass Früchte, Samen, Blätter, Rinde und Holz medizinische Verwendung finden. Gewürze werden sie herstellen, verschiedene Tees, Heilkräuteröle und –salben und vieles mehr. Sie werden alles einsetzen können, wenn ihre Klinik drüben in „Little Smile 2“ fertig sein wird. Die Klinik soll viele Arbeitsplätze schaffen. Bei uns gibt es doch auch einen wachsenden Markt für all diese Produkte. Ich verstehe von der Sache nichts und halte es für sinnlos, mich schlau zu machen. Ich frage auch Michael nicht, das Ganze ist mir zu komplex. Wenn ich zu Hause die Bedarfslisten derjenigen bekommen könnte, die diese Produkte importieren, vielleicht wären sie hier schon kurzfristig in der Lage zu liefern, bestimmt aber langfristig.
Die Nähschule unter mir scheint eine perfekte Einrichtung zu sein, das Gebäude und die Ausstattung optimal. Alle Mädchen lernen hier das Nähen und die Buben auch, wenn sie wollen. Devisenquelle Nr.1 für Sri Lanka ist der Textilexport, gefolgt von Tee und Tourismus. Ich bin sicher, dass man hier eine solide Basis schafft, damit das eine oder andere Kind vielleicht eine Chance haben wird, im Textilbereich nicht nur als Näher unterzukommen.

Dominik ist in der Schreinerei fast fertig mit seinen Abschiedsgeschenken für die Kinder. Er hat für sie wunderschöne Namensschilder gemacht. In der Schreinerei kann man gut arbeiten, meint er. Das Notwendigste ist da, sicher könnte man zusätzlich dies oder das brauchen, aber es gehe auch ohne. Dringend brauchen würde man aber die Kettensägen und er schildert mir noch mal die Schinderei mit den Wiegesägen. Dabei sei Bauholz bald das Wichtigste, was man brauche und im Zukauf ruinös teuer. Bäume gäbe es ja mehr als genug, aber der Transport sei unmöglich, wie ich gestern in „Little Smile 2“ selbst gesehen habe. Die Bäume müssen an Ort und Stelle in transportierbare Größen zersägt werden und das bedeutet halt viele zeit- und kraftraubende Längsschnitte. Ich hoffe, nein ich bin überzeugt, dass man sie nicht vergessen hat und die versprochenen Kettensägen bald eintreffen..

In der Nähe der Schreinerei sieht man schon in etwa hinunter zu den gerodeten Gebieten, wo gestern die Kinder zusammen mit ihren Betreuerinnen und Gärtnern Bäumchen gepflanzt hatten. Auch heute ist dort in einzelnen Trauben ein munteres Gewimmel zu sehen. Da unten stecken sie also alle. Michael sehe ich auch bei einer Gruppe von Kindern, was er da macht ist von hier aus nicht zu erkennen. Ich mache noch ein Foto von dem mit Bruchsteinen befestigten steilen Weg nach unten und eines irgendwie durch das Baumdurcheinander hinunter Richtung Rodungsstelle und gehe dann selbst runter. Dort, wo gestern die Berge von Kokosnussschalen gelegen waren, ist nichts mehr, ganze zwei Jungbäumchen finde ich noch, die aber gerade geholt werden. Ich schaue zu, wie das letzte Bäumchen seinen Platz findet. Wie sie das machen, habe ich gestern schon beobachtet. Heute fasziniert mich ein Energiebündel von Mädchen, vielleicht schon Teenager, in weißem, geblümtem, langem Kleid. Mit der schweren Haue holt sie über Kopf aus und schmettert sie zielsicher zwischen den braunen, nackten Füßen in den Boden, um die Erdarbeiten für die Pflanzung des letzten Bäumchens zu erledigen. Das Ganze ist so unwirklich, die makellos saubere Kleidung, so unpassend für diese Arbeit und der kraftvolle Körpereinsatz des grazilen, jungen Mädchens. Ich will den Fotoapparat nachspannen, schade, der Film ist voll. Also schau ich zu, wie das letzte Bäumchen der neuen Pflanzung gesetzt wird. Weit drüben steigt Michael wieder nach oben, bleibt da und dort stehen. Die Kinder, die mit ihrer Arbeit schon fertig sind, spielen entweder auf dem großen Stein, von dem aus ich ihnen gestern zugesehen habe, oder sie sitzen auf den endlos langen Ästen der gewaltigen Regenbäume am Rande der neuen Plantage und schwingen langsam durch die Lüfte. Die Sonne hat den höchsten Stand schon längst überschritten, als wir alle zusammen wieder nach oben gehen, dem angeschlagenen Tempo kann ich allerdings nicht folgen, weg sind sie alle.

Auf dem Weg nach oben, ich will schauen, ob ich noch einen leeren Film dabei habe, bewege ich mich ganz langsam, mir ist alles zu heiß. Dort drüben ist Michael und jetzt kann ich auch sehen, dass er mit seiner Videokamera unterwegs ist, er macht sicher Aufnahmen für seine Dokumentation. Er kommt auf mich zu, richtet seine Kamera auf mich, die Kamera läuft und er spricht mich an, etwa mit den Worten: „Heinz, du bist jetzt gut einen Tag hier in Little Smile, welche Eindrücke hast du gewonnen?“ Innerliche Panik. So viele unsortierte und unverdaute Eindrücke schwirren mir im Kopf, wo anfangen? Ich beginne damit, dass mir aufgefallen sei, wie sehr er sich verändert hat im Vergleich zu den Fotos und Filmaufnahmen, die ich von ihm gesehen habe, die höchstens ein paar Jahre alt sind und die erkennen lassen, wie viel Kraft und Energie er hier gelassen hat. Er bricht ab. „Ich will nichts über mich hören“, sagt er, „von den Kindern sollst du erzählen und außerdem schwitzt du so, dass das Ganze eher nach einer Unterwasseraufnahme aussieht. Das machen wir später noch mal.“ Ich bin mir sicher, dass nicht nur die Hitze und die Sonne der Grund für die „Unterwasserbilder“ sind. Am späten Nachmittag erwischt er mich noch einmal. Was ich gesagt habe, weiß ich heute nicht mehr.

Ich stelle mich zu dusselig um den Film aus der Kamera zu bekommen, irgend etwas klemmt. Einen neuen Film habe ich zwar dabei, aber was nützt es. Für Michael ist das bestimmt eine Kleinigkeit, aber ich habe keine Ahnung wo er ist. So lasse ich den Fotoapparat in meinem Zimmer, ich weiß ja, dass ich mir zu Hause im Internet die Unmengen an Bildern anschauen kann, die Michael dort eingestellt hat. Im Gästehaus gibt es viele Fotos von den Kindern und dem Dorf. Ich stehe lange davor. Das Mittagessen lasse ich ausfallen, überlege mir, irgendwo Siesta zu machen und lasse es dann doch bleiben. Die Mauer hinter dem Haus wird sicher noch heute fertig, bevor es dunkel wird. Auf dem Dachstuhl des neuen Toilettengebäudes klettern zwei Männer. Das Dach wird ebenfalls heute noch fertig werden. Ich will noch einmal ohne Fotoapparat losziehen, da kommen alle Kinder ins „Maine House“. Samstag Nachmittag, Filmzeit. Ich achte nicht auf den Film, die neugierigen Gesichter sind viel interessanter.

Nach dem Film, bis zum Sonnenuntergang kann es nicht mehr lange dauern, gehen alle nach unten, Richtung Tempelbezirk. Ich schließe mich an. Bereits kurz oberhalb der Tempelterrasse, am Fußende der langen Steintreppe, haben alle ihre Schuhe ausgezogen. Dicht gedrängt, teils im Schneidersitz, teils auf den Knien, sind die Kinder um den Hindutempel versammelt. Die Erwachsenen haben sich hinter ihnen gruppiert, Michael und Lucian, der einheimische Leiter des Kinderdorfes, der auch alles übersetzt , vor Ihnen. Alle wissen, dass sie ihren Lokuthatha für lange Zeit nicht mehr sehen werden. Ich beobachte Gesichter und höre Michael zu, was und wen er im Einzelnen anspricht. Jeder Gedanke wird sofort übersetzt, sodass auch die Allerkleinsten mitbekommen, was ihnen ihr Lokuthatha zu sagen hat. Wie er das macht, die einen scharf ansprechend, die anderen sanft, den nächsten aufmunternd, seinen Nachbarn bremsend, Erwartungen bei dieser Gruppe weckend und Befürchtungen bei der anderen zerstreuend zeigt, was für ein wundervoller Pädagoge er obendrein ist. Er zeigt ihnen allen eine Perspektive auf, einen Weg, der gangbar ist. Ich sehe leere Blicke und betroffene, eingezogene Köpfe und strahlende Gesichter, bange Blicke und erwartungsvolle aber vor allem feuchte Augen. Dann beten sie. Ein Mädchen betet vor, die anderen fallen ein, mir ist alles fremd, aber ich weiß ganz genau für wen sie beten. Wir gehen schweigsam nach oben, es wird sehr schnell dunkel und bald werden wir alle zum Essen gerufen.

Zuvor aber erlebe ich das Ende eines Bewerbungsgespräches. Michael fordert mich auf, mich dazu zu setzen, als ich zufällig vorbeikomme. Der junge Mann will in „Little Smile“ arbeiten. Um welche Position er sich bewirbt, bekomme ich nicht mehr mit. Seine Schwester ist bereits hier beschäftigt, sie nimmt ebenfalls an dem Gespräch Teil. Weitere Personen sind anwesend. Der Bewerber scheint eine solide Ausbildung zu haben, sein Englisch ist gut, er hat einen Führerschein. Er ist sauber gekleidet, geputzte Schuhe, makelloser Eindruck. Ich setze mich und höre zu, wie ihm Michael deutlich macht, welcher zusätzlicher Arbeitseinsatz von ihm verlangt wird, eine lange Liste an Aufgaben, für die er jederzeit eingesetzt werden wird, wenn notwendig. Alles zum Wohl und der Sicherheit der Kinder. Ganz drastisch macht er ihm klar, dass die Mädchen absolut tabu sind. Sollte auch nur das geringste vorkommen, wird er sofort einen Schnitt machen und die Handbewegung, die er dabei macht, zeigt deutlich, dass es sich dabei nicht nur um das Ende seiner Beschäftigung handelt. 5500 Rupien (55 Euro) lautet sein Angebot, er solle es sich überlegen. Das Einkommen ist gerade noch ausreichend, um eine kleine Familie zu ernähren.

Dann gibt es Abendessen. Wie immer gibt es ..... Nein. Dominik hat ein Abschiedsessen zubereitet. Spaghetti Milanese unter erschwerten Bedingungen. Offensichtlich konnte er keine Spaghetti bekommen, also hat er kurzentschlossen Suppennudeln genommen und die Tomatensoße, na ja, er hat ja Schreiner gelernt. Der Zuspruch zu seinem Menü hält sich in Grenzen, aber probieren wollen wir alle. Viel wichtiger ist, dass er für uns alle gekocht hat.

Nach dem Abendessen sind Dominik und Michael mit Packen beschäftigt. Ich versuche die beiden Filmberichte „2000“ und „2001“ anzuschauen, aber es ist zu viel Betrieb im Haus und außerdem ist heute die Elektrizitätsversorgung so schwach, dass am Monitor immer wieder das Bild zusammenbricht und der Film zum Hörspiel wird. Ich gebe dennoch nicht auf und beschließe, mir die Videos zu Hause zu bestellen. Michael bittet mich um Hilfe, weil er seinen Koffer nach dem x-ten Versuch immer noch nicht zu bekommt. Sein Koffer ist aber auch eher eine Seekiste und als ich ihm helfe sehe ich, dass die privaten Dinge darin leicht noch in meiner Plastiktüte Platz hätten, alles andere sind Aktenordner und Papierkrieg.

Der erste Patient erscheint. Der Kleinbus, mit dem wir nach Colombo fahren werden, ist gemietet und muss in wenigen Tagen zurückgebracht werden. Einige Kinder werden mitfahren. Sie haben zum Teil so enge Kiefer und so schöne große Zähne, die keinen Platz haben und übereinander wachsen. Ein kieferchirurgischer Eingriff ist notwendig, der nur in Colombo möglich ist und eine Stange Geld kosten wird. Michael verbindet den Flughafentransfer mit einem Krankentransport. In einem Hospiz in Colombo können die Kinder übernachten und nach dem Eingriff geht es dann wieder zurück. Viel Erholungszeit bleibt ihnen nicht, das Auto muss termingerecht zurückgegeben werden. Ich hole aus dem Werkzeugraum eine Rohrzange, Hammer und Meißel und biete dem Jungen an, die Sache jetzt gleich zu erledigen. Er könne sich die lange Fahrt nach Colombo sparen, versuche ich ihn zu überzeugen, aber mit einem nervösen Lächeln lehnt er ab.
Langsam wird es Zeit zum Aufbruch.

Sonntag 27.04.2003

Für die Abreisenden gibt es nur noch wenig zu tun, Mitternacht ist vorbei, die geplante Abreisezeit naht. Alles Reisegepäck ist startklar und wird zum Auto gebracht. Beim Verlassen des Hauses schaltet ein Bewegungsmelder die Terrassenbeleuchtung an. Die Terrasse ist voller Menschen, groß und klein ist gekommen. Alle wollen sie ihrem Lokuthatha eine gute Reise wünschen in der bangen Hoffnung, dass er nur ja wiederkommt. Viele haben noch gar nicht geschlafen, andere wurden geweckt, die ganz kleinen durften weiterschlafen, wenn sie nicht selbst wach geworden sind. Jetzt sind sie alle auf der Terrasse versammelt. Sie stehen in einzelnen Grüppchen und bilden einen Halbkreis. Michael verabschiedet sich von jedem Einzelnen. Ich halte mich im Hintergrund und bin Zeuge des bewegenden Momentes. Die Kinder kenne ich inzwischen alle vom Sehen, habe mich mit einigen unterhalten können. Namen konnte ich mir nicht merken und habe es vermeiden können zu erfahren, welches Gesicht mit welchem Schicksal verbunden ist. Es ist sehr ruhig und trotzdem kann ich nicht hören, was er den Einzelnen zu sagen hat, bis er zum Ende seiner Runde wieder in meine Nähe kommt. Da bekomme ich noch mit, wie er zu einem der größeren Mädchen sagt: „Bis ich wiederkomme erwarte ich von dir eine Entscheidung“. Sie möchte Kinderpflegerin werden und hier arbeiten. Als letzte nimmt er eine der jungen Frauen aus der Küche in den Arm und ich höre Ihn sagen: „Verlass uns nicht, wir brauchen dich ganz dringend“. Überall nasse Augen, Michael mag das Abschiedsgeheule nicht und sie halten sich daran, so gut sie es fertig bringen. Dann verabschieden sie Michael ein letztes Mal und ich stehe da, wie vom Blitz getroffen. So unvorstellbar bei uns. Sie werfen sich vor ihm auf den Boden, ohne ihn zu berühren. Es ist Landessitte. So ehrt man hier seine Eltern.

Wir fahren los. Mein Platz ist wieder hinter dem Fahrer, links sitzt Michael dazwischen ein kleiner Bub. Neben mir das Kofferungetüm und einige Taschen, hinter mir ein Knäuel von Mädchen, nicht zu erkennen, ob es fünf oder sechs sind und auf der Rückbank wird wohl Dominik sein, bestimmt noch jemand, aber man kann nichts sehen.

Wir sind schon eine ganze Weile unterwegs. Zu sehen ist nur das kurze Stück vor uns, das der Scheinwerfer ausleuchtet. Einzelne Tiere verschwinden von der Fahrbahn, waren das Wildschweine? Michael versucht zu schlafen, sein Kopf fällt in unnatürlichen Bewegungen von der einen Seite zur anderen. Von hinten klettert ein Mädchen zu mir vor, setzt sich irgendwie auf den großen Koffer und öffnet ein Schiebefenster. Ihr ist übel, aber das ist kein Grund für sie das Auto anzuhalten. Das geht auch während der Fahrt. Sie tut mir leid und als sie sich dann auf dem Koffer zusammenkauert, um notfalls gleich wieder am Fenster zu sein, streichle ich ihr übers Haar. Im selben Moment fällt mir ein, dass einige Kinder noch keinen Körperkontakt vertragen können, merke jedoch, dass es ihr gut tut und streichle sie weiter, bis sie wieder nach hinten klettert. Ich sitze unbequem, mein Knie macht Zicken und beim Suchen nach einer anderen Sitzposition kann ich das Armaturenbrett sehen. Die Reservelampe leuchtet. Wo kann man hier eigentlich tanken? In Koslanda habe ich keine Tankstelle gesehen. Bestimmt gibt es in Badulla, nördlich von Koslanda eine Tankmöglichkeit. Aber Badulla zu erreichen bedeutet bestimmt weit mehr als eine Stunde Fahrzeit, einfach. Man muss über die Berge. Oder Ratnapura, wir sind auf dem Weg dahin, von Koslanda drei Stunden entfernt. Wie weit ist es noch? Dann sieht auch Michael das gelbe Lämpchen und ich glaube Wortfetzen zu verstehen wie „noch ca.30 km“ „Reserve schon drin“ „ich hoffe.“ Michael versucht weiter zu schlafen. Wir erreichen Ratnapura und eine Tankstelle. Geschlossen. Es dürfte 4 Uhr sein, aber genügend Leute sind unterwegs, die man fragen kann. Aus den Gesten ist zu entnehmen, dass es zwei Tankstellen gibt, also auf zur nächsten. Ebenfalls geschlossen. Der Fahrer steigt aus und es dauert nicht lange, bis er mit dem verschlafenen Tankwart erscheint. Die Tanknadel wird wieder sichtbar, steigt nach oben und pendelt sich um dreiviertel ein. Auf die Frage, warum er nicht voll getankt habe, antwortet der Fahrer, dass der Tank randvoll sei. Wir fahren weiter, das Reservelämpchen leuchtet, dazu jetzt auch die Ölkontrolle und ich habe dazugelernt, dass nicht nur das Autofahren hier reine Nervensache ist.

Gegen 6 Uhr erreichen wir die Randbezirke Colombos. Teilweise sieht man recht gepflegte Wohngegenden und die Häuser lassen erahnen, dass hier nicht die Ärmsten wohnen. Es dauert aber noch eine halb Stunde, bis wir am Hospiz ankommen, einem größeren Komplex zweistöckiger Gebäude, ummauert und bewacht. Zielbewusst steuert der Fahrer eines der vielen Gebäude an und wir können endlich aussteigen. Es kommen derart viele Kinder aus dem Bus, dass ich versucht bin, eine verborgene Geheimtür zu suchen. Wo waren die denn alle? Wir sind fünf Erwachsene. Dominik, eine Betreuerin, der Fahrer, Michael und ich, die Kinder zu zählen gelingt mir nicht, genau so nicht, wie ich zu Hause die Fische in unserem Teich nicht zählen kann, die sich auch immer hin und her bewegen. Müssen die alle in die Zahnklinik? Nein, nur einige von ihnen, erklärt mir Dominik. Heute will er mit ihnen allen Colombo erkunden und dann besuchen sie ein Rugbyspiel, sie sind schon ganz aufgeregt, und morgen dürfen diejenigen, die nicht unters Messer müssen, weiter Colombo kennen lernen. Man nutzt jede Gelegenheit, so lange sie noch den Bus haben.

Michael zeigt den Kindern im ersten Stock ihre Zimmer, es sieht alles nach eingefahrener Routine aus. Aus einem Zimmer kommt ein Mann im offenen Hemd und kurzer Hose, oder ist es ein Schlafanzug, mit laufendem Rasierapparat und ruft: „Wo ist Michael?“ Bruder Gregory ist mir sofort sehr sympathisch. Die beiden haben viel zu besprechen, es dauert über eine Stunde, bis sie wieder erscheinen. Dann gibt es ein gemeinsames Frühstück, bei dem gewaltig aufgetragen wird. Auch hier Reis und Buntes, dazu verschiedenes Brot, Butter, Käse, Wurst, Marmelade und Honig und ein junger Mann bringt Spiegeleier und gebratenen Schinken. Er sieht die Kinderaugen und eilt sofort in die Küche um mehr bacon and eggs zu braten. Ein junger Filipino sitzt mit uns am Frühstückstisch und ist erstaunt, als wir uns alle bei den Händen nehmen und einen guten Appetit wünschen. Das war deutsch, erklärt Michael dem Verdutzten und es entwickelt sich ein Gespräch, in dem sich herausstellt, dass die Insel, von der er kommt, Michael gut bekannt ist. Vor allem die Kriegsgebiete. Auch da hat er Filmaufnahmen gemacht und er erzählt von den Bedingungen, die der junge Mann mit Kopfnicken bestätigt.

Dann geht es zum Flughafen. Über Feldwege, auf denen irgendwo eine ausgesetzte Meute neugeborener Hunde liegt, erreichen wir eine Schnellstraße und sind bald am Ziel. Der Bus muss sofort weiterfahren, nicht viel Zeit für Verabschiedung, die Kinder auf dem Weg Colombo zu entdecken. Ich habe nur eine Plastiktüte, aber Michael. Er bittet mich sein Stativ als mein Handgepäck nach München zu bringen, seine Kamera gibt er nicht aus der Hand. Er hat noch weiteres Handgepäck und vor allem sein Kofferungetüm. Das wird Schwierigkeiten beim Einchecken geben. Ich werde bei ihm bleiben, vielleicht kann mein Flugticket wegen des Übergewichtes von Nutzen sein. Meine Frau hat bestimmt schon eingecheckt. Ich schultere das Stativ, mache eine flapsige Bemerkung, dass ich mir vorkomme wie ein Großwildjäger und los geht´s.

Wir treffen meine Frau, Michaels Einchecken ist problemlos, bis wir unser Gate erreichen sind mehrere abfertigungstechnische Hürden zu nehmen, immer mit Warteschlangen verbunden. Meine Frau will wissen, wie es war und dann kommen auch all die anderen Hotelgäste dazu, die heute zurück müssen. Ich kann viel erzählen, aber wenn es um die Kinder geht, kann ich nicht reden. Ist es die Freude, dass es ihnen so gut geht, oder das Wissen, wie es ihnen ergangen ist, bevor sie in „Little Smile“ Geborgenheit und Zuwendung erleben durften, ich weiß es nicht, die Stimme versagt ihren Dienst. Ich muss das Erlebte erst verdauen.

Während des Fluges nach Frankfurt will ich Michael etwas fragen, weiß aber nur, dass er irgendwo vorne sitzt. Mit suchendem Blick gehe ich den Gang entlang. Aber ich muss nicht suchen, denn andere Fluggäste zeigen mir sofort wo er sitzt. Grotesk verrenkt hat er eine Schlafposition gefunden. Ich lasse ihn schlafen. Beim Warten auf den Anschlussflug in Frankfurt bleibt genügend Zeit zum Reden.