Besucher seit Januar 2005: 980675

Von Hoffnung und Sinn

Gedanken - angeregt durch eine alte Tageszeitung aus Deutschland

Hoffnung ist eben nicht Optimismus, ist nicht Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht.
Dieses Zitat von Vaclav Havel wurde als Gedanke gewählt über der Sterbeanzeige von Frau Ekina Omelka, geboren am 1. Oktober 1930 und gestorben am 24. März 2010. Der Name, das Datum, die Ahnung eines Lebensweges mit Krieg, Vertreibung, Armut in der Kindheit und Jugend. Es ist die Wochenendausgabe der Münchner TZ vom 27. und 28. März.
Vergilbt habe ich sie in einer Ecke gefunden, hatte nie Zeit oder Lust auch nur reinzuschauen. Warum ich es heute tue, an diesem Samstagabend, Ende Juli?

Ratten haben das dicke Bündel Papier entdeckt, angeknappert, manches an Geschichten, Bildern und Anzeigen mitgenommen für immer in den Bauch oder ins Nest meiner nagenden Hausgenossen.
Der Rest ist auch längst Geschichte, hat eh nur dank meiner Schlamperei unbeachtet in einer staubigen Ecke überdauert.
Es gibt nichts Älteres als die Zeitung von gestern, hat man uns damals in der Journalistenausbildung gelehrt. Die Welt will und kann nicht innehalten, der Zirkus der Reporter ist ständig auf der Jagd nach Neuem, das schon wieder alt ist bevor die Druckerschwärze getrocknet ist. Und da sitze ich hier im Bergdschungel Sri Lankas und blättere in einer Lokalzeitung, die mehr als 100 Tage alt ist.
Wie viel ist seit diesem Wochenende kurz vor Ostern hier passiert. Jeder Tag ist hier so voller Erlebnisse, Herausforderungen und Überraschungen, man könnte mit den 24 Stunden sicher ein Buch füllen, das niemals langweilig wäre. Wie also 100 Tage fassen? Ohne Aufzeichnungen ist das ein Ding der Unmöglichkeit. Weil ich mir das aber stets vornehme und dann doch nie schaffe bleibt nur der exemplarische Blick auf den heutigen Tag, der auch schon wieder zu verschwimmen droht, zu verschmelzen mit den Tagen und Wochen zuvor und von dem dann dieses Gefühl zurückbleibt, dass man immer zu wenig Zeit hat, fürs planen, kontrollieren, für die Sorgen der Mitarbeiter, der Kinder und all der Menschen, die ständig ans Tor klopfen und nicht zuletzt auch zum schreiben, festhalten dieser so unglaublichen Momente, die mein Leben hier seit Jahren ausmachen und im Rückblick unbeschreiblich machen. Also halte ich einen Moment inne und versuche diesen heutigen Tag dem Verschwimmen zu entreißen.

Meine schmerzenden Füße erinnern mich daran, ich war viel unterwegs, bin sicher 15 Bergkilometer gelaufen durch die beiden Farmen in Dikkapitia und Nikapota, das Kinderdorf bei Koslanda und das Bubenheim hoch auf dem Bergrücken.

Im Kinderdorf haben wir heute das Pflanzen des Reises begonnen, Büschel für Büschel wird in den 2 Wochenlang mühsam vorbereiteten Sumpfboden gesteckt. Auch 12 unserer älteren Kinder und Auszubildenden helfen mit. Schule des Lebens nennen wir das und wollen damit die älteren Kinder stufenweise auf ihr Leben nach Little Smile vorbereiten. Jeden Samstag helfen sie für drei Stunden da mit, wo sie stark oder besonders stark sind. Rebekka und Krishna (von links) haben ihr eigenes kleines Reisfeld bekommen, das sie nun pflanzen, hegen und eines Tages hoffentlich auch ernten werden. Begleitet wird die Arbeit im Feld von theoretischem Unterricht. Da wird dan geplant, gerechnet und die einfachste Regel des wirtschaftlichen Überlebens erlernt: Nur wenn der Gewinn die Kosten übersteigt macht das Engagement Sinn. Ein bisschen wird so der Ernst des Lebens geprobt, freilich noch mit einem Lächeln, besonders wenn sich der „Lokuthatha“ im Reisfeld blicken lässt.
In unserer organischen Farm in Dikkapitia stehen wichtige Entscheidungen an: was bauen wir wo an und wie viel können wir in diesen unsicheren Zeiten investieren. Durch den schlechten Eurokurs verlieren wir an unseren Gewürzen können unsere Leute aber nicht so einfach entlassen, immerhin sind alle von der Arbeit abhängig umso mehr, weil wir in erster Linie verlassenen oder verwitweten Frauen mit Kindern hier eine Chance geben. Dikkapitia heißt „Bergsteigen“, denn die Farm deckt auf einer Länge von gut 2 Kilometern fast 200 Meter Höhenunterschied ab. Da kommt man ins Schwitzen.
Auch in eines unserer beiden Naturschutzgebiete muss ich noch, denn das Nachbargrundstück, bis vor kurzem fast unberührter Bergurwald, wurde dem Erdboden gleichgemacht. Sandelholz soll dort gepflanzt werden, nachdem man das Land in winzige Parzellen aufgeteilt und als „gute Investition“ verscherbelt hat. Angeblich wird der ganze Wahnsinn auch noch gefördert unter anderem sogar aus einem Ökotopf in Europa. Man merke, zuerst zerstöre ich die natürlichen Wälder und verkaufe das Tropenholz, danach stelle ich einen Antrag auf Wiederaufforstung, streiche die Fördergelder ein und pflanze dann etwas, was mit einem natürlichen Wald soviel zu tun hat wie der Zoo in Colombo mit „wildlife“. Nun ist unser Bergdschungel in Nikapota, dem die ganze südliche Flanke aufgerissen wurde, einer der letzten natürlichen Wälder und einziger Wasserspeicher für eine Reihe von Dörfern. Aber auch an seinen Grenzen wird genagt und gesägt und wenn ich nicht Präsenz zeige und unnachgiebig jeden Holzdieb verfolge sind die Tage dieses kleinen Paradieses für Pflanzen und für Tiere auch gezählt. Wenn nicht bald Gelder aus dem Emissionshandel gut kontrolliert Sri Lanka erreichen sehe ich schwarz für die letzten Wälder hier.

Im Kinderdorf zurück werden mir weitere 5 Kinder als krank gemeldet. Fieber, Erbrechen, Durchfall, einer der zahllosen Viren eben, die sich dann in den Kinderhäusern schnell ausbreiten. Die Zahl der Kranken erhöht sich damit auf 10 Kinder und 3 Betreuerinnen.

Iruschi, 5 Jahre jung und von Größe und Gewicht eher einer Dreijährigen in Deutschland ähnlich, erwartet mich mit einem fiebrigen aber dankbaren Blick. Ich soll ihr den Becher mit Wasser und die Medizin geben, darauf wartet die Kleine seit ich mich von ihr vor 4 Stunden mit einem Lächeln verabschiedet habe.
Sie und drei weitere Kinder habe ich im Krankenzimmer untergebracht, da dieser Virus offenbar sehr ansteckend ist.
Große Aufregung im Green-Star-Haus! Die 13jährige Shripani ist vom Dach gefallen und liegt jetzt stöhnend um Beachtung kämpfend, im Bett. Gottlob ist nichts gebrochen, ein paar blaue Flecken und Schrammen und die Chance für die 13jährige, ein paar Streicheleinheiten abzubekommen. Also setze ich mich im Green-Star-Haus an ihr Bett und erzähle ihr eine Geschichte: Once upon a time, when I was a small boy….“ Erzählungen aus meiner Kindheit lieben die meisten der Kinder hier, denn sie können sich nur schwer vorstellen, dass ihr Lokuthatha, übersetzt heißt das ihr „großer Vater“ auch mal ganz klein angefangen hat. Mit dem Trost, dass Morgen die Welt wieder ganz anders aussehen wird, verabschiede ich mich, denn schon werde ich zu einer lautstarken Auseinandersetzung an unserem Tor gerufen.

Die 11jährige Banu, die an ständig eitrigen offenen Geschwüren leitet, musste ins zwei Stunden entfernte Krankenhaus gefahren werden, der Fahrer ruft mich an, ist auf dem Rückweg liegen geblieben. Später stellt sich heraus, dass trotz Kundendienst und wöchentlicher Durchsichtspflicht die Batterie völlig ohne Wasser war und so den Geist aufgeben musste und mit ihr die gesamte Autoelektronik. Aber das werde ich erst viel später am Abend feststellen, nachdem man das Auto hierher geschleppt haben wird.

Verbaler Kampf zwischen zwei Betreuerinnen und der Mutter eines Mädchens, das seit 8 Jahren hier ist und am Ende des Jahres seine Abschlussprüfung haben wird. Jahrelang hat sich die Frau nicht blicken lassen, heute ist sie aufgetaucht, will „ihr“ Kind zurück weil sie schwanger ist und demnächst ein Dienstmädchen braucht. So einfach ist das und wenn der Fall vor Gericht geht, muss ich das Kind wohl ins Unglück entlassen. Dabei kann das Mädchen die Prüfungen schaffen, hat viele Begabungen und ist hier zu Hause. Traurig aber wahr: nicht selten sind hier die Verwandten, selbst die Mütter diejenigen, die das Glück der Kinder am meisten bedrohen. Eine Weile stehe ich im Schatten, verdeckt von einem mächtigen Baum und staune über das Stimmengewirr, das anschwillt, richtig schrill werden kann und dann wieder zurückebbt. Wer nie singhalesische Frauen in einem Streitgespräch erlebt hat der kann sich nicht vorstellen, wie schnell ein Mensch reden kann ohne dass sich die Zunge verknotet. Schließlich habe ich genug und trete zum Tor. Selbst mein Erscheinen kann den Redeschwall nicht bremsen, selten habe ich die Betreuerin Laksha, bei der das Mädchen lebt, so zornig erlebt. Draußen wären die beiden Frauen vermutlich längst aufeinander losgegangen.

Mein alter Torwächter weiß gar nicht, was er machen soll, besonders jetzt wo der Chef aufgetaucht ist. Ich habe ihn ein wenig im Verdacht, dass er auf einen Kampf gehofft hat, viel Abwechslung gibt es für ihn ja nicht hier am Tor. Nun aber rückt er schnell seine Uniformmütze zurecht, streckt den Bauch vor, so als könne er mit zunehmender Wölbung seines Hemdes auch seine Autorität vergrößern und gebietet in strengem Ton Ruhe.
Mein Kommen hat das Kräfteverhältnis so stark verschoben, dass die Frau einsieht, dass sie heute hier nichts ausrichten kann. Ruhig erkläre ich ihr, dass sie ein Schreiben der Behörde braucht um ihr Kind zu bekommen. Im Geheimen hoffe ich darauf, dass ihr das zu viele Umstände machen wird und wir so schnell nichts mehr von ihr hören.

Unser 10.000 Liter Wassertank ist schon wieder fast leer. Irgendwo auf dem riesigen Grundstück ist ein Wasserhahn abgerissen oder eine Leitung gebrochen. Seit man die Hähne nur noch in billigster Qualität bekommt, made in China, passiert das öfter. Und wenn ein Gartenarbeiter mit der Hacke eine der Wasserleitungen aus Plastik durchschlägt, wird das Malheur unter Erde, Zweigen und Blättern versteckt und wird so erst richtig zum Malheur, weil dann oft tagelang Wasser ausläuft bis wir den Schaden finden.
Ein Horde Affen hat unser Gemüsefeld verwüstet und Krishanti, die mit Gekreisch und Stecken die Übeltäter vertreiben wollte, mit fletschenden Zähnen in die Flucht geschlagen. Es fällt auf, dass diese Tiere immer aggressiver werden, vor Kindern keinen und vor Frauen wenig Respekt zeigen. Der Anbau von Obst und Gemüse kann höchsten noch unter Tierliebe abgebucht werden.
Im Bubenhaus auf Hill Top haben Elefanten zum x-ten Mal den Zaun niedergedrückt und jetzt fressen Kühe unsere mühsam hochgepäppelten Jungbäume.
Der Direktor der singhalesischen Schule hat angerufen und fragt, ob wir nicht helfen können Toiletten zu bauen. Im Moment gibt es nur zwei für knapp 1000 Kinder und die haben auch kein Wasser. Na prima!
All das erfahre ich von Saradha auf dem Weg runter zu unserm Office. Die 24jährige ist seit 7 Jahren hier. Über die Arbeit in Kinderhäusern und im Büro ist sie in immer größere Verantwortung hineingewachsen und kümmert sich organisatorisch bereits um die meisten Belange rund ums Kinderdorf.

Ach ja, eine erfreuliche Nachricht hat sie auch noch und die wird mir auf halbem Weg stolz präsentiert. Eine Bananenstaude mit mehr als 50 Kilogramm und regelrechten Monsterbananen. Dass die von den Affen unbehelligt geblieben sind, vielleicht lag es ja an der Größe. Maheshwaran ist erst 17. In der Schule hat des dem tamilischen Jungen gar nicht gefallen. Er ist ruhig, schüchtern aber ein gewissenhafter Arbeiter. Wie es sich gehört, träumt er von einem Motorrad und bis er sich das zusammengespart hat muss er noch viele Bananen ernten. Im Gegensatz zu den Arbeitern von draußen ist das hier sein Zuhause und darum ist auf ihn immer Verlass.
Kaum im Büro kommt der Wächter und atmet heftig. Unser Grundstück ist groß und steil und er ist nicht mehr der Jüngste.
Schon wieder Besuch mit dem er nichts anzufangen weiß. Seit die Affen immer und immer wieder unsere Telefonleitungen abgerissen haben, so oft und so lange, bis wir aufgegeben haben sie zu reparieren, muss er diesen Weg jetzt öfter machen.

Eine alte Frau sei hier mit drei kleinen Kindern, alle nur auf den ersten Blick herausgeputzt aber wer genauer hinschaut, der sieht das Elend hinter der Fassade. Es seit das Mädchen, das vor gut 6 Monaten von der Mutter weggeholt worden war, so berichtet der Wächter über die neuerliche Störung ärgerlich. Den Name habe er vergessen. Ich aber nicht! Ich kann mich an Dammika erinnern als sei sie nie weggegangen.
Der Abschied damals hat mich sehr geschmerzt, nach mehr als 5 Jahren hier, denn ich wusste, dass dieses Mädchen in dem kleinen Tamilendorf in den Teeplantagen keine Chance bekommen würde. Auch hier war die Mutter wieder schwanger geworden und brauchte Jemand, der sich um das neugeborene kümmert. Dammika war gerade 11 geworden.
Die Oma steht vor mir, zittert vor Erschöpfung und Hunger. 8 Kilometer sind sie gelaufen, wobei die alte Frau das kleinste der drei Mädchen, die ganze Zeit getragen hat. Es sei so schlimm dort im Haus ihrer Tochter. Der neue Mann habe Dammika ständig geschlagen, zu Essen gab es nur, wenn sie mit ihren fast 70 Jahren mit dem Sammeln von Brennholz etwas Geld verdienen konnte. Aber immer mehr Leute streifen durch die Wälder, immer öfter wird der alten Frau einfach das, was sie mühsam gesammelt hat, weggenommen.
Dammika ist verlegen, beißt sich auf die Unterlippe, wagt es nicht, mir ins Gesicht zu schauen. Ein paar Kinder kommen gelaufen, längst hat die Neuigkeit die Runde gemacht. Rangika, mit 13 Jahren bereits die Sprecherin im Green Star Haus kommt zu mir und will mit mir reden. „Please, Lokuthatha, give a chance for Dammika.“ Sie weiß, dass Little Smile normalerweise Kinder, die uns verlassen haben, nicht wieder aufnimmt. Es gäbe sonst ein einziges Hin und Her. Alle Mädchen aus der 7ten Klasse und das sind immerhin 10, warten in einiger Entfernung, kommen jetzt näher um ihre Unterstützung für dieses Anliegen deutlich zu machen. Die Großmutter zeigt mir die Wunden der Kinder, die von Verwahrlosung aber auch Schlägen herrühren. „And what’s about you?“ spreche ich zum ersten Mal Dammika direkt an.

„Please“, meint das Mädchen nur und schaut mir ganz kurz in die Augen. Ich muss mich ein wenig sträuben, das Ganze in die Länge ziehen, sonst würde dieser Fall schnell Schule machen und so manches Kind würde bei den ganz alltäglichen Problemen gleich mit Weggehen drohen. In mir selbst ist längst klar, dass Dammika noch einmal eine Chance bekommen wird.

Die Arbeit in den Plantagen muss abgenommen werden, die Mädchen vom Luckyhaus haben ein „Problem“ und wollen noch mit mir reden, ich will noch nach unseren Kranken sehen und ausnahmsweise werde ich heute das gemeinsame Gebet mit allen Kindern und Betreuerinnen unten beim Boddibaum versäumen, denn im fünf Kilometer entfernten Bubenhaus auf Hilltop steht heute etwas besonders an: Damith, der vor mehr als 10 Jahren als wirklich winziger und spindeldürrer Siebenjähriger zu uns gebracht wurde, feiert heute seinen 18ten Geburtstag.

Und weil in Sri Lanka die Mädchen ihr ganz besonderes großes Fest haben, wenn ihre erste Regelblutung einsetzt, habe ich den 18ten Geburtstag zum besonderen Tag für die Jungs erklärt. Damith ist zu einem drahtigen jungen Mann herangewachsen, er bereitet sich gerade intensiv auf die Abschlussprüfung des A-Levels vor, er will unbedingt auf die Universität und Arzt werden. Ich traue ihm das sogar zu denn Damith hat einen starken Willen. Seit Jahren gewinnt er den Marathonlauf in unserer Region mit einer solchen Überlegenheit, dass sich außerhalb der Little Smile Gruppe kaum noch Gegner finden. Tagelang kann er sich danach nur noch humpelnd fortbewegen, die Fußsohlen sind verbrannt und voller Blasen denn Damith läuft immer ohne Schuhe. Und so werde ich ihm heute spezielle Langlaufschuhe schenken, für die ich lange und weit durch die Hauptstadt Colombo laufen musste.
Kurz nach Sonnenuntergang sitze ich mit dem frischgebackenen Mann vor dem Haus der großen Jungs auf Hilltop. Ich habe zwei Flaschen Carlsberg Bier mitgebracht, eine für mich und zum ersten Mal – zumindest offiziell – eine für Damith. Unten im Tal gehen die Lichter an, also ist heute kein Stromausfall. Hinter uns klettert der runde Mond, der mir hier in den Tropen viel größer vorkommt als in Deutschland, über den Horizont. Man muss schon genau hinschauen um das fehlende Stück zu finden denn morgen ist Vollmond. Wir sind gut 200 Meter oberhalb des Kinderdorfes, auch von dort grüßen Lichter. Es ist klar und man kann sehr weit sehen und mit zunehmender Nacht sehr weit ahnen. Richtig dunkel wird es nicht, es reduzieren sich hier eigentlich nur die Farben auf ein sehr dunkles Grün, alle Grautöne und viel, viel Silber. Auch die Konturen werden weich und verschwimmen zuweilen aber an einem klaren Tag wie heute sieht man fast so weit wie am Tag nur eben ganz anders.
Ein leichter Wind bringt viele Gerüche und Abkühlung.
„Als ich herkam, erkläre ich dem jungen Mann neben mir, „gab es hier nur vereinzelt Häuser und nur die nahe der Straße hatten Stromanschluss. Gerade mal 12 Jahre ist das her, wenig später, mit den ersten Kindern kam Damith. Vieles hat sich auch hier geändert. Zwar gibt es hier immer noch frei lebende Elefanten aber viel weniger als damals. Ein Großteil der Wälder wurde abgeholzt, Grundstücke mit Stacheldraht eingezäunt, es leben nun viel mehr Menschen unten im Tal.
Hier oben dagegen, da muss am Abend schon ich kommen, damit sich die Jungs noch raustrauen, denn hier geht regelmäßig eine Elefantenmutter mit ihrem Jungen um, hier gibt es noch Rückzugsgebiete für die in Sri Lanka heiligen Tiere, denen man trotzdem kaum noch Lebensraum lässt.
Seit geraumer Zeit sitzen wir nun schweigend nebeneinander, jeder hängt seinen Gedanken nach. Und gerade dieses Schweigen hier oben, hoch über den Tälern, verbindet, wie das Worte nur schwer können. Ich versuche mich an meinen 18ten Geburtstag zu erinnern aber es gelingt mir nicht. War vermutlich falsch, dass ich damals nicht gefeiert habe, denn mit 18 hat man Grund zum Feiern, da ist das Leben noch ein einziges Versprechen, die Welt wartet nur darauf entdeckt zu werden.
„Weißt du Damith, all das, die Erde, der Wind, die Bäume, der Mond und die Sonne, all das gehört für eine Weile jetzt dir. Aber pass gut auf, denn die Zeit hält auch für dich nicht an. Sie leiht dir all das für eine Weile und dann sind Andre dran. Jede Zeit hat ihre Menschen und jeder Mensch hat seine Zeit. Und die sollte er so nützen, dass er nicht traurig sein muss, wenn sie sich dem Ende zuneigt.“ Ich weiß nicht, ob Damith verstanden hat, aber plötzlich schaut mich der Junge an. „ Wenn deine Zeit zu Ende geht, dann musst du, Lokuthatha, nicht traurig sein.“

Ein Tag wie so viele und doch wieder ganz anders, einmalig eben.
Muss ich wirklich nicht traurig sein, habe ich immer das gemacht was möglich und was richtig war? Es ist fast Mitternacht .Ich blättere in der alten Tageszeitung aus München, die so deutlich die Vergänglichkeit des Augenblicks spiegelt.
Was ist seit dem letzten Wochenende im März, als diese Zeitung aktuell war, passiert? In Deutschland, ja da war in erster Linie die Fußballweltmeisterschaft angesagt, gab es zahllose, wie sagt man da heute so schön neudeutsch „Public viewings“, da wurde wieder in Rot/Gelb/Schwarz gebadet, ein Ruck ging durch mein altes Heimatland und die braven deutschen Buben wurden immerhin Dritte.
Hier habe ich diese Weltmeisterschaft ganz anders erlebt, Fußball ist hier so unbekannt wie bei uns Kricket, der Nationalsport im Land.
Im Fernsehzimmer, zwischen den Räumen für die kleinen Mädls und die Jungs bis 6 Jahren, es war seltsam in der tropischen Nacht mit all ihren Geräuschen die Namen Sweinstaiger oder Mueller in singhalesischer Aussprache zu hören. Die Jungs waren dann viel weiter weg als nur in Afrika, eher schon irgendwo da, wo die Satelliten rumschweben, die so eine Parallelität der Ereignisse erst möglich aber nicht immer in allen Details begreifbar machen. Deutschland ist weiter gekommen als ich und vermutlich die meisten Zeitgenossen der Mannschaft zugetraut haben, aber heute ist vermutlich Schluss denn gegen Argentinien wird wohl kaum was zu holen sein. Also die vermutlich letzte Chance für die neuen Fußballfans, die Mannschaft aus meiner alten Heimat zu sehen. Besonders Müller hat bei uns seine weiblichen Fans und so haben die mit Sondererlaubnis gleich auf dem Boden des Fernsehzimmers geschlafen. Kurz vor Mitternacht läutet der Wecker, ich bin so kaputt, würde am liebsten Fußball Fußball sein lassen aber da ist mein Versprechen und da schlafen 14 Fußballfans im Vertrauen darauf, dass ich sie pünktlich zum Anpfiff wecken werde. Was dann kommt ist ganz sicher kein langweiliges Spiel und äußerst erfreulich für die Fans von Schwarz-Rot-Gold. Doch trotz vier Toren und einer tüte Gummibärchen, meinen Mädls fallen einfach die Augen zu. Mein Jubeln schreckt sie auf sodass ich mich bei Tor Nummer Drei und Tor Nummer vier mit einem zufriedenen Brummen begnüge. Und dann taumelt Deutschland im Siegesjubel und wir müde durch die Nacht unseren Betten entgegen. Es ist fast 2 Uhr und um halb Fünf beginnt für uns alle ein neuer Tag.


Ich tauche auf aus meinen Erinnerungen genau in dem Moment, wo der Minutenzeiger die 12 verlässt. Samstag, der 24. Juli ist Vergangenheit, endgültig, für immer. Ich blättere im Kerzenlicht, inzwischen haben wir Stromausfall, durch die alte Zeitung.
Die Haupt-Schlagzeile, der Aufmacher der Titelseite also: „Endlich mal wieder gut schlafen“ – Was Forscher raten – die besten Tipps. Solche Sorgen habe ich nicht, irgendwann falle ich einfach um, ganz egal wie viel hungrige Stechmücken mich gierig umkreisen.
Seite 22. Ein Kollege aus längst vergangen Zeiten beim Bayerischen Rundfunk taucht auf, Dietmar Gaiser, ein Netter. Als er dann von der Abendschau am Mittwoch plötzlich die Sendung „Jetzt red I“ bekam, wurde er bekannt, ein öffentlicher Mensch. Ich erinnere mich noch dunkel an sein Abschiedsfest im Sender. Und was kam dann nach der Pensionierung? So viele Jahre später, heute Nacht bekomme ich ungefragt eine Antwort darauf: Aus „Jetzt red I“ wurde „Jetzt schreib I“ Gaiser, der Bürgeranwalt der TZ. Schneeweiß ist sein Haar und immer noch scheint er Brillen mit rotem Gestell zu bevorzugen. Und er kämpft, so die Zeitung, für die kleinen Leut’, wer immer die auch sind. Es geht um den „Kampf gegen eine Taxirechnung“, um die Gebühreneinzugszentrale mit unberechtigten Forderungen und um Ferienbuchungen im Internet.

Was fällt mir noch auf: Die Tages Zeitung „TZ“ hat ihren „Korrespondenten“ einen Dierk Sindermann nach Hollywood geschickt wo eine 150 Millionen Dollar teure Villa zum Verkauf ansteht. Unglaublicher Kitsch und Pomp wird da auf einer Seite ausgebreitet. 123 Zimmer hat das ehemalige Heim eines Serienproduzenten, dem wir so segensreiche Ideen wie „Drei Engel für Charlie“ verdanken.


Gleich zwei Seiten für die große TZ-Serie über bekannt Gebäude und Plätze Münchens, einer Stadt in der ich fast 15 Jahre gewohnt habe ohne je dort daheim zu sein. In dieser Ausgabe geht es um das Platzl und die wichtigste Frage für die beiden Autorinnen scheint die, wem da was gehört am Platzl.
Und so erfährt der Leser, dass die Familie Inselkammer, vielmehr ihre Platzl Hotel Inselkammer KG, mehr Immobilienbesitz hat, als sich das ein normaler Sterblicher auch nur vorstellen kann. Was macht man, wenn man so reich ist? Ich erinnere mich an die Familie als Gastwirte eines Wiesnzeltes, aber das kann dann ja nur noch Hobby sein. Wie ist es, wenn man in so eine Familie rein geboren wird? Ist da der Weg nicht vorgezeichnet? Ist er irgendwie nicht für jeden von uns vorgezeichnet, nur ein Schicksal, das wir erfüllen, ohne es zu wissen. Weil ich auf solche Fragen keine sichere Antwort habe, blättere ich weiter und erfahre etwa, dass dem Thomas Gottschalk inzwischen eine Blondine bei „Wetten dass“, zur Seite steht und wohl zu besseren Quoten verhelfen soll, dass der „Wetterfrosch“ Kachelmann in dicken Problemen steckt, dass der Ferrari-Boss sauer auf den Michael Schumacher ist. All diese und andere weltbewegenden Nachrichten, die völlig an mir vorbei gegangen sind, erfahre ich auf meinem Steifzug und lande plötzlich bei den Todesanzeigen.
Seite 28 – VERSCHIEDENE ANZEIGEN. Wieso eigentlich VERSCHIEDENE wenn sich auf der ganzen Seite alles um den Tod dreht. Klar, Tod und Sterben machen sich nicht gut in einer lockeren Tageszeitung mit vielen Bildern, also packt man das rein in die Schublade Verschiedenes. Angekommen bei den schwarzen Kästchen lese ich immer das Datum der Geburt der Verblichenen zuerst. Wie weit sind die noch weg von meinen Zahlen? Monika Wiesbauer, geboren am 3. September 1947 kommt mir am nächsten und ist noch beruhigend weit weg. „Diese Lücke wird nie verheilen“, steht da. Kann eine Lücke verheilen? Ein Wunde kann das, bei einer Narbe bin ich mir nicht mehr so sicher denn sie ist ja schon die verheilte Wunde aber wenn eine Narbe sich entzündet, kann auch sie verheilen aber eine Lücke? Zugegeben, ich habe hier kaum mehr die Gelegenheit deutsch zu sprechen und man verlernt so einiges. Sei es drum, in jeden Fall war da Schmerz und der feste Glaube, dass dieser Schmerz nie vergehen wird, sich die Lücke nie schließen wird. Ob die heute, mehr als 100 Tage später, auch noch so fühlen?
Und dann ist da ein Robert Huber, Träger des Bundesverdienstkreuzes und der Medaille „München leuchtet“. Und dann steht da auch wofür er so dekoriert wurde: Fasching, genauer „München narrisch“, Trachtenzug, Wiesn Einzug. Hoppla, dann ist das ja „mein“ Huber, mit dem ich damals, als ich noch der ARD-Herr der Wiesneröffnung, incl. Einzug der Wiesnwirte war, zu tun hatte. Wieder Erinnerungen!
Sicher bin ich der Letzte, der dieses IN MEMORIAM liest. … Die Urne ist beigesetzt in den Chiemgauer Bergen“. Ende? Aus? Vorbei?

Sich erinnern, an Menschen, die nur noch Erinnerung sind. Ich erschrecke fast ein wenig, wie viele der Menschen mir in dieser alten Zeitung begegnen, Menschen, die einmal mein Leben gekreuzt haben.
Irgendwann schließt sich jede Lücke, der Trachtenzug in München findet längst ohne den Huber statt, in der Formel 1 gewinnen Leute, deren Vornahme nicht Michael lautet, dem Wetter ist es völlig egal ob ein Kachelmann mit ihm Geld macht, jede Lücke schließt sich, irgendwann und meist viel schneller als man denkt.

Ich gehe hinaus in die mondhelle Nacht. Die kriegen das hier mit der zuverlässigen Stromversorgung in Sri Lanka einfach nicht gebacken und eigentlich müsste man ihnen dankbar sein. Wer in Deutschland kennt noch eine solche Mondnacht in der kein künstliches Licht irreführt. Es ist fast 1 Uhr, die Nacht gehört den Tieren und den Gedanken, den Erinnerungen, bei mir heute angestoßen von dieser alten Tageszeitung, die irgendwie den Weg hierher gefunden hat.
Ich setze mich auf einen Stein, die Gedanken fliegen, kreisen, drehen sich. Exkollegen marschieren vorbei, sicher so Mancher ist längst auf der anderen Seite des großen Stromes. Es ist wie ein kurzer Blick in eine Welt, die ich vor 11 Jahren verlassen habe und die mir inzwischen so fremd vorkommt, als hätte ich über das, was ich „mein Leben vor Sri Lanka“ nenne, in einem Buch gelesen. Einfach weggegangen bin ich, habe das Gelände des Bayerischen Rundfunks in Freimann hinter mir gelassen. Ich habe nicht gewusst und auch nicht geplant, dass dies ein Abschied für immer werden sollte. Es gab keine Rede, nicht mal einen Händedruck, schon gar kein schriftliches Lebe wohl. Mehr als 20 Jahre Arbeit beim und für den Bayerischen Rundfunk, einfach so vorbei. Die Lücke war sicher schnell geschlossen. Was bleibt von diesem Teil meines Lebens ? Immerhin einige gute Filme im Archiv und Ideen, die ich hinterlassen habe ohne reich zu werden und von denen jetzt Andere ganz gut leben.
Ich reibe mir die Augen, aber diese silbrige Dunkelheit, die Nacht ist ohne richtig Nacht zu sein, bleibt unwirklich. Man kann sie weder fotografieren noch filmen und kaum beschreiben. Gut, dass es Dinge gibt, die man noch erleben muss um sie zu erleben. Kommt hinter dieser Dunkelheit da draußen etwas, was dem hier einen tieferen Sinn gibt, so was wie das vollkommene Licht?

„Hoffnung ist die Gewissheit, dass etwas Sinn hat – ohne Rücksicht darauf, wie es ausgeht!“
Gut, dann kann ich voller Hoffnung noch drei Stunden dieses eben begonnen Tages verschlafen, von einem Tag, der ganz sicher wieder viele Herausforderungen bereithalten wird, bevor auch er unwiederbringlich Vergangenheit sein wird.

Gute Nacht Ekina Omelka, wo immer du jetzt auch bist und danke dafür, dass du mir „post mortem“ diesen Gedanken von Vaclav Havel vererbt hast.w