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Stimmungsbericht Little Smile Ende 2021

Gegen das Vergessen

Es passiert einfach zu viel hier im und um das Kinderdorf in den Bergen Sri Lankas. Da machte und macht auch das Jahr 2021 keine Ausnahme. Wie aber soll man sich auch an die oft so wichtigen Kleinigkeiten erinnern, wenn kein Tag dem vorausgegangen gleicht, es nie so kommt, wie man geplant hat und man jeden Abend todmüde ins Bett sinkt? Irgendwann ist wieder Weihnachten, ein Jahr vorbei, die Kinder sind gewachsen, einige haben uns verlassen, neue sind gekommen, man selbst spürt auch dieses Jahr in den Knochen. Aber sonst? Der ganz normale Wahnsinn so vieler Tage und Wochen vermengt sich, verschwimmt zu einem „viel los gewesen“. Aber Einzelheiten? Und weil das wirklich schade ist, weil ich auch die unscheinbaren, dabei oft so besonderen Momente nicht verlieren sondern wieder erlebbar machen möchte und nicht nur die ganz Außerordentlichen, habe ich auch 2021 mit mir gekämpft, todmüde manchmal und habe es geschafft, wie schon 2020 und 2019 und so manches Jahr davor.
Auf 258 Seiten liegt 2021 vor mir, ein paar werden noch dazu kommen, dann ist auch es nur noch Erinnerung. Und die wird, dank dieser Aufzeichnungen nicht verblassen!  Ob ich oder irgendwer sonst dieses Tagebuch einmal lesen wird? Ich weiß es nicht und das ist im Moment auch nicht wichtig. Ich kann, wenn ich will, die Tage zurückholen, sie nochmal fühlen, ihre Freude, ihren Schmerz. Immer wieder war ich kurz davor aufzugeben, war zu müde, es gab 1001 Gründe, warum es gerade nicht passt. Aber ich habe es geschafft, Gott sei Dank! Manchmal sehe ich mich als alter Mann in einem Schaukelstuhl sitzen, am liebsten mitten in unserem Naturschutzgebiet. Vor mir diese Bücher, in denen auch mein Leben, mein Fühlen, Hoffen, meine Versuche, Siege, Enttäuschungen und Niederlagen festgehalten sind. Wie könnte ich 2021 fassen, ohne noch einmal einzutauchen in die zahllosen großen aber eben auch kleinen Geschichten, die mein, die unser Leben hier so besonders machen.

Corona und kein Ende

„Wohl selten gab es ein Jahr, dass so verdammt wurde wie 2020. Kann eigentlich nur besser werden, war zum Vergessen, hat überwiegend gar nicht stattgefunden, weil einfach zu viel eingesperrt. So schlimm war es für mich nicht, Corona hat mein Leben nur in Maßen beeinflusst und eingeschränkt. Konnte nicht nach Deutschland und auch keinen Urlaub mit meinen Kindern, weder hier noch dort machen, aber sonst? Hatte sogar was Gutes, dass man mehr Zeit hatte für die Little Smile Kinder, auch wenn dadurch viel Arbeit in den anderen Projekten liegengeblieben ist“.
So beginne ich am Neujahrsmorgen 2021 das Tagebuch dieses Jahr.  Auch in diesem Jahr konnten Anka oder ich nicht nach Deutschland reisen, Corona war nicht besiegt worden, im Gegenteil. Neue Mutationen freuen vermutlich nur die Pharmariesen, die Gesellschaft in vielen Ländern hat sich geteilt in strikte Impfgegner und Menschen, die sich und ihre Gesundheit von dieser Haltung bedroht sehen, von der so gerne zitierten Solidarität ganz zu schweigen. In Sri Lanka gab es diese Diskussionen nicht, wer sich ums Überleben sorgt hat dafür keine Zeit. Wer konnte, ließ sich impfen, überwiegend mit chinesischen Impfstoffen, zu deren Nebenwirkungen es gar keine Veröffentlichungen gibt und die auch deshalb in Deutschland gar nicht zugelassen sind. Also haben Anka und ich gehofft, warum sollten wir nicht einen auch in unserer Heimat erlaubten Impfstoff bekommen, etwa über die Botschaft. Wir sind doch auch Deutsche und wir wollen uns ja impfen lassen und wir möchten gerne mal wieder die Menschen besuchen, die uns auch ans Herz gewachsen sind.
Doch nur Botschaftsangehörige kamen in den Genuss der eingeflogenen Impfstoffe, wir blieben Deutsche 2. Kategorie. Die Versprechen vieler Offizieller und Politiker in Sri Lanka, dass man da schon einen Weg finden werde, immerhin würden wir ja eine der größten Kinderschutzeinrichtungen des Landes leiten, waren am Ende nur heiße Luft.

Und so ließ ich mich, Mitte August von der Armee mit Sinovac impfen, mit mauem Gefühl im Magen. Dass ich einige Wochen später richtig krank wurde und mit Herpes Zoster im Gesicht eine neue Dimension an Schmerzen erlebte, Nebenwirkung oder nur Zufall? Eine der vielen Fragen hier ohne Antwort. Eine zweite Impfung hätte ich auch ohne diese Krankheit nicht bekommen, es gab diesen chinesischen Impfstoff nicht mehr, ausgegangen oder zurückgezogen wegen zu vieler Nebenwirkungen blieb offen.
Mit dem, der ausreichend vorhanden war, Sinopharm, vertrug sich Sinovac offensichtlich nicht. Also musste ich 3 Monate warten, bis ich dann, kurz vor Weihnachten, meinen nun wieder ersten Shot mit Sinopharm bekam. Während ich diese Zeilen schreibe, lausche ich in mich hinein, warte und hoffe, die Impfung war erst gestern. Ohne Impfung zu bleiben wäre in meinen Augen unverantwortlich. Habe ja nicht nur mit Kindern sondern auch mit vielen alten und kranken Menschen in unseren Hilfsprojekten zu tun. Freilich hilft mir und Anka, die gestern ihre zweite Dosis bekam, Sinopharm nicht weiter, wenn es um den Wunsch geht, mal wieder nach Deutschland zu fliegen. Wenn es so weit ist, wird sich schon ein Weg finden, wer weiß heute schon, was uns dieser Virus morgen noch machen lässt.

Staatliche Bildung – ein Kasperltheater

Die ersten drei Monate von 2021 mussten wir Kinder in die staatlichen Schulen schicken, im täglichen Wechsel mal klassenweise, mal nur die Hälfte, mal nur die Kleinen, immer was Neues. Es war nicht klar, ob die Versäumnisse des alten Schuljahres aufgeholt werden sollten oder das neue Schuljahr begonnen hatte, eine neue erste Klasse gab es jedenfalls nicht. Unbedingt wollte man die Abschlussprüfungen durchziehen, obwohl ja im Jahr 2020 kaum unterrichtet worden war. Für uns hieß das, dass wir bereits um 4 Uhr am Morgen Frühstück kochen mussten für die Kinder, die an dem Tag zur Schule sollten und trotzdem immer mindestens die Hälfte der schulpflichtigen Kinder hier hatten.
Und dann lies sich Corona auch in Sri Lanka nicht mehr leugnen, die Schulen machen wieder dicht. Die Eltern, viele längst nach mehr als einem Jahr arbeitslos in existenziellen Nöten, wurden angewiesen, Smartphones zu kaufen und viele, viele Daten für Unterricht durchs Internet. Dass ständiger Stromausfall, mangelhafte Reichweite des Signals und ständige Abstürze der Plattform, die da schnell eingerichtet wurde, ein solches Vorhaben schon technisch erschwerten, dass die Lehrer keine Ahnung hatten, wie man einen solchen Unterricht gestalten soll und so nur weiter aus dem Schulbuch vorlasen und die Schüler sich viel lieber mit ihren Freunden auf Facebook rumtrieben, wenn mal das Internet funktionierte, kurz, die Sache wurde ein umwerfender Erfolg.
In Little Smile hatten wir nie aufgehört, unabhängig von dem, was in der Schule los war, zu unterrichten. Komplizierter wurde es freilich auch für uns, weil wir ja nicht mehr nur nach Stärke der jeweiligen Schülerinnen und Schüler die Gruppen zusammenstellen konnten sondern auch noch berücksichtigen mussten, wer gerade da war. Ab April wurde es dann wieder einfacher für uns, die staatlichen Schulen störten den Lernerfolg unserer Kinder nicht weiter. So blieb das dann bis Mitte November.

Da erfuhren wir aus dem Radio, dass in der kommenden Woche die staatlichen Schulen wieder aufmachen würden, wieder im Wechsel, um die Schülerzahl gering zu halten, Ausnahme, die Abschlussklassen.

Nachtrag: Weil unsere Kinder offiziell nicht am Internet Unterricht teilgenommen hatten, mussten sie ganze Bücher abschreiben. Dass sie viel gelernt haben und vielfach ihren Mitschülern weit voraus sind, tut da nichts zu Sache.

Schwere Momente

Warum das Traurige, das Tragische, der Misserfolg und die Enttäuschung immer lauter sind als die guten Erlebnisse, zumindest in der ersten Phase des Erinnerns? Vielleicht liegt es daran, dass im Kinderdorf und damit auch in meinem Leben ganz grundsätzlich eine eher positive Grundstimmung herrscht, dass Lächeln und Freude zu Teilen meines Alltags geworden sind, aus denen dann hervorsticht, was weh tut oder erschüttert.

Die erste, richtig schlechte Phase kam im März, kurz vor Ostern. Am 22.03. verlor ein Mensch, den ich sehr schätzte und der als Rechtsanwalt zuhause auch meine Interessen in einer leidigen Erbgeschichte vertrat, unter sehr rätselhaften Umständen sein Leben.

Nur einen Tag später verunglückten zwei Jungs aus Little Smile, die sich einen Three Wheeler „geborgt“ hatten, um den Bus, der ihnen mit den Schulsachen davon gefahren war, nachzujagen. Während der viel zu junge Fahrer unverletzt blieb, wurde der mitfahrende Klassenkamerad schwer verletzt, wurde im Jahr 21 mehrmals operiert und sitzt immer noch im Rollstuhl.

Am 30. März dann geschah das für mich Unfassbare, es erwischte mich selbst und zwar auf dem Motorrad, das hier ja mein Hauptfortbewegungsmittel ist. Zwar verheilten meine Wunden rasch, aber der Schock darüber, dass auch ich stürzen kann, sitzt tief, hielt ich mich da doch für absolut unverwundbar nach fast einem halben Jahrhundert Erfahrung auf 2 Rädern.

Wenige Tage danach wird einer unserer Jungs in der Schule erwischt, wie er einem Lehrer das Handy klaut.Allein das und die folgende Lügerei wären schon traurig genug, dass aber unser Ältester ihn dazu angestiftet hat, weil er eben auch ein Telefon wollte. Sowas tut richtig weh und zeigt Grenzen auf.

Mitte September stirbt, nach einer sehr aufwendigen und teuren Herzoperation Diviyas Mann und lässt dieses ehemalige Little Smile Kind, das ja auch die Tochter unserer Betreuerin Bawani ist, hochschwanger mit dem zweiten Kind zurück. Bawani flippt aus, fürchtet, dass sich ihr Schicksal als alleingelassene Witwe nun bei ihrer Tochter wiederholt. Wenig später bringt die erst 28jährige Witwe einen gesunden Buben zur Welt, die dreijährige Tochter lebt derzeit bei Bawani in Buttala.

Kurz nach meinem Geburtstag, dem 18. September, reißen mich extreme Kopfschmerzen aus dem Schlaf. Meine Augenbraue über dem rechten Auge schwillt an, die Stirn, Schläfe und Kopfhaut, immer rechts, brennt und sticht, wie von 1000 winzigen Messern traktiert. Damit beginnt ein Tal der Schmerzen, wie ich sie bisher nicht gekannt habe und die, trotz starker Schmertabletten, einfach nicht in den Griff zu bekommen sind. Meine Schwester Daniela diagnostiziert im fernen Bayern „herpes zoster“ und macht mir klar, dass ich Geduld mitbringen muss. Wie recht sie hat!
Das Ganze wird zwar nach gut 1 Monat besser, schmerzfrei bin ich allerdings auch am Ende dieses Jahres noch nicht.

Und dann Ende Oktober wird der Alptraum aller Eltern Wirklichkeit. Die vierjährige Tochter von Darshani, auch ein ehemaliges Little Smile Kind, die Anfang des Jahres mit ihrer kleinen Famile als Caretaker in unserer Farm Rajagiri einen Neustart im Leben begonnen hat, fällt hin. Nichts Besonderes, denken die jungen Eltern. Doch zwei Tage später fällt das Kind einfach um. Es folgt eine Odyssee durch drei Krankenhäuser, danach Tage und Nächte zwischen Hoffen und Bangen. Gehirnblutungen werden festgestellt, können nicht gestoppt werden. Am frühen Morgen des 26. Oktober dann ist die kleine Udeshani tot, für die Eltern bricht eine Welt zusammen. Obwohl selbst krank, kümmere ich mich um Alles. Ich versuche da zu sein, zu trösten, kümmere mich um all das, was nun getan werden muss. Die Beerdigung findet neben unserem Bubenheim auf Hill Top statt, Darshani kann nicht mehr nach Rajagiri zurückkehren, wo sie mit Mann und Kind glücklich war, verlässt uns in eine unsichere Zukunft.

  

Und doch: Danke für dieses Jahr

2021 war also zum vergessen? Zeit wird immer wertvoller, je weniger Einem bleibt. Klar, dass mir da, wenn es wieder mal ganz dicke kommt, Zweifel kommen, ob ich mit den vergangenen 22 Jahren nicht etwas anderes hätte machen sollen, etwas, wo man sich dann irgendwann zurücklehnen kann und auf sein Lebenswerk schauen? Vom Zurücklehnen bin ich heute weiter entfernt denn je, Dankbarkeit und Anerkennung waren und sind eher die Ausnahme auf dem von mir eingeschlagenen Lebensweg. „Wer Gutes tut, hat selten Frieden“ hat mir mein Sohn Manuel kurz vor seinem Abschied aus Sri Lanka gesagt und er hatte recht. Frieden werde ich wohl erst haben, wenn mein Herz aufgehört hat zu schlagen.
In der Summe bleibt am Ende auch des 22. Jahres von Little Smile ein Gefühl der Freude und Dankbarkeit über diesen meinen Lebensweg. Keines der Kinder, für die wir hier im Kinderdorf sorgen, ist schwer erkrankt oder weggelaufen. Klar, die Pubertät hat vielen von Ihnen und damit auch uns zugesetzt, aber am Ende haben wir immer einen Weg gefunden. Gajanthani, die ja zunächst nur für ein Jahr bereit war, hier zu arbeiten, hat sich entscheiden, länger Teil der Litte Smile Familie zu bleiben, obwohl ihre Familie unbedingt wollte, dass sie studiert. In Buttala haben Bawani und alle unsere Mitarbeiter dort mehr als 50 nächtliche Zwischenfälle mit wilden Elefanten überlebt, die Mächtigen des Landes haben uns in Frieden gelassen, der neue Leiter des Jugendamtes der Provinz kämpft nicht gegen uns wie seine Vorgängerin, sondern mit uns zum Wohle der Kinder, ja und am Ende des Jahres hat uns auch noch der erst kürzlich ernannte deutsche Botschafter Holger Seubert besucht und will nun einen Weg finden, wie die deutsche Botschaft unsere Arbeit hier auch langfristig unterstützen kann.
Fazit: Trotz der vielen traurigen Ereignisse, der Schwierigkeiten durch Covid und  den Problemen mit der gestörten Natur. Ich bin dankbar auch für dieses Jahr. Jeden Morgen, wenn ich die Augen aufschlage, die tropische Geräuschkulisse zahlreicher Tiere in mein Bewusstsein dringt, mir langsam klar wird wo ich bin, dann freue ich mich auf den gerade begonnen Tag, auf das Lächeln der Kinder, darauf auch heute wieder ihr großer Vater „ihr Lokuthaththa“ sein zu dürfen.