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Ein Abschied voller Zweifel oder warum es so schwer sein kann loszulassen Wie schreibt man über das, was sich kaum verstehen und noch viel schwerer mitteilen lässt, die eigenen Gefühle in dem Moment, in dem Kinder, die bei und mit uns in Little Smile gelebt haben, mit denen man Leid und Freude geteilt hat, an deren Bett man Nächte durchwacht, für die man gekämpft hat und mit denen man um den besten Weg gerungen hat, plötzlich gehen wollen? Wobei die Bezeichnung Kinder schon falsch ist, weil sie nicht mehr die sind, die oft vor vielen Jahren, manchmal vor mehr als einem Jahrzehnt im Kinderdorf Mahagedara Zuflucht gesucht und gefunden haben. Denn auch wenn sie für mich oder Anka immer Kinder bleiben werden, irgendwie, so sind sie gewachsen, haben sich nicht nur äußerlich verändert, die Schule durchlaufen, mehr oder weniger erfolgreich und oft danach eine Ausbildung begonnen. Es war und ist unser Ziel, sie hier auf das Leben vorzubereiten, sie stark zu machen und unabhängig.
Frauen haben es schwerGerade die Mädchen sollen bei uns lernen, ihr eigenes Geld verdienen zu können, achtsam zu sein in einer Welt, die für Männer gemacht ist, die so viel mehr Rechte haben, so viel mehr Macht. Unsere Mädchen müssen als junge Frauen in einer Gesellschaft bestehen, die ihnen wenig Rechte zugesteht, aber sehr viele Pflichten, zu allererst die, jungfräulich in eine Ehe zu gehen, um dann Besitz des Ehemanns und seiner Familie zu werden, ohne Ausweg. Dabei ist Gewalt gegenüber Frauen, auch die in der Ehe, per Gesetz verboten, nur wohin soll eine Frau sich vor häuslicher Gewalt flüchten und wovon einen Rechtsanwalt bezahlen? Wie soll sie, sollte trotz vieler Hürden eine Trennung gelingen, in einer Gesellschaft bestehen, die alleinstehende Frauen nicht akzeptiert? Erziehung wird da für aufgeklärte Europäer zu einer Gratwanderung zwischen dem, an das man selbst glaubt und dem, was junge Frauen wirklich vorbereitet auf eine Realität außerhalb von Little Smile. Erschwerend kommt hinzu, dass viele unserer Schutzbefohlenen schon als Kind Opfer werden von Gewalt, auch von sexueller und dass sie als Opfer dann in den Augen der Allgemeinheit und nicht selten der Gerichte zumindest eine Mitschuld tragen an der eigenen Vergewaltigung und sich daher auch schuldig fühlen. Woher sollen diese Mädchen Selbstwertgefühl nehmen, wie sollen sie jemals zu Menschen wieder Vertrauen haben, wenn der eigene Vater, der Onkel, der Bruder ihnen Gewalt angetan hat? Kein Wunder, dass wir uns also schwertun, sie in diese für Frauen regelrecht feindselige Welt zu entlassen.
Der Siegeszug einer falschen WirklichkeitGut zwei Jahre hatten wir unseren Frieden im Kinderdorf, war das Draußen wirklich draußen, weit weg, konnten wir lachen, lernen, leben als gäbe es nur uns. Irgendwie haben wir gar nicht gemerkt, dass diese zwei Jahre auch körperlich Spuren hinterlassen haben, weil eine 12jährige eben anders ist und denkt als eine 14jährige und diese Welten trennen von einer mit 16, in jedem Fall draußen. Little Smile war in dieser Zeit ein Hort der Menschlichkeit ohne Macht und Gier der Starken. Doch dann ging es wieder los, mussten wir unsere Mädchen wieder in die staatlichen Schulen schicken. Dort hatten alle Mitschülerinnen und Mitschüler nun Smartphones, weil auch in Sri Lanka so getan wurde als wäre Internetschooling die Lösung. Die Kinder und Jugendlichen aber gerieten in ihrer Einsamkeit in den Sog von Facebook und Co, nahmen die sogenannten Freundschaften dort für wahr, hielten rosa Herzen für den Beweis wahrer Zuneigung. Und nun durften sie wieder raus aus dem Lockdown wegen Virus oder Unruhen, jugendliche Liebesgeschichten, hier extrem verpönt, wurden nun unkontrollierbar. Nur die Mädchen von Mahagedara und die Buben von Hill Top machten da eine Ausnahme. Sie hatten auch weiterhin soziale Kontakte gehabt, leben doch allein in Mahagedara gut 100 Mädchen und junge Frauen zusammen, hatten sich nie in der virtuellen Welt verloren, weil wir lieber auf Unterricht mit gut ausgebildeten Lehrern im Kinderdorf setzten als auf Internetclasses durch Lehrer, die auch virtuell nur dozierten und deren Gerede eh nur selten ankam, weil es oft kein Telefonsignal gab und sehr häufig nicht einmal Strom. Und plötzlich standen sie also in den Klassen der staatlichen Schulen und waren die Einzigen, nicht nur ohne Smartphone, sondern auch ohne Boy- oder Girlfriend. Wer will es ihnen da verdenken, dass sie denken mussten etwas versäumt zu haben.
Nur in der Nacht werden in Mahagedara die Kinderhäuser verschlossen. Das Gebiet des Kinderdorfes ist mit mehr als 8 Hektar so groß, dass wirklich jedes Mädchen ihren Lieblingsplatz finden kann. Freilich kommen in dieser Welt kaum Jungs und Männer vor und je älter die Mädchen werden, um so verlockender erscheint ihnen das Draußen. Schweren Herzens machten auch wir Kompromisse, gaben denen, die die Schule bereits hinter sich hatten und in einer Ausbildung bei uns standen, die Erlaubnis, sich vom selbstverdienten Geld ein Smartphone zu kaufen, mit klaren Regeln, aber wie können wir kontrollieren mit wem nun Kontakt aufgenommen wurde, wie lange diese jungen Frauen nach Arbeitsschluss virtuell flirteten. Klar hatten wir Vorbereitungskurse gemacht, auf Gefahren hingewiesen und darauf, dass nicht jeder, der vorgibt ein Traummann zu sein auch ein solcher ist, es half alles nichts. Einige gerieten in den Sog einer Welt der Träume, deren Erfüllung in der Hauptstadt Colombo quasi auf der Straße lagen, einer Welt auch voller Fake und Betrug. Da wurde es schwer, sehr schwer, sie zum Abschluss der Ausbildung zu motivieren.
Nur noch wenige Monate hätte Samadi gebraucht, um das Abitur zu machen. Doch schon lange hatten Jungs von draußen der 18jährigen immer wieder Smartphones zugesteckt, glühende Liebesbriefe geschrieben. Irgendwann war es dann so weit! Egal was wir sagten und wie gut unsere Argumente auch waren, die junge Frau schmiss alles hin und brach auf in die große Freiheit, die ihr die Hauptstadt Colombo verhieß. Wir konnten nichts weiter tun, als der Volljährigen alles Gute zu wünschen.
Nich alle Wünsche werden wahrEine andere Gruppe war per Gerichtsbeschluss eingewiesen worden, nachdem einige Opfer von Gewalt geworden sind, andere mit einem Jungen von daheim fortgelaufen sind oder auf der Straße aufgegriffen wurden. Zwei Jahre machten dann die Gerichte mehr oder weniger Zwangspause, nichts ging voran, der letzte Beschluss galt, es gab keinen Besuch von Verwandten, nichts. Frust, der in Aggression mündete, machte uns zu schaffen, Tränen und Wut, einfach ist anders! Wir versuchten mit Sportfesten gegenzusteuern, richteten alte Fahrräder her und redeten, redeten, redeten. Einige dieser meist älteren Mädchen fanden einen Weg an ein Smartphone zu kommen, nahmen heimlich Kontakt auf, zuweilen leider sogar mit ihren Peinigern, weil sie sonst niemand kannten und Hiebe mit Liebe verwechselten.
Exodus aus dem KinderdorfAls dann die Öffnung kam, passierte, was bisher nie geschah. Eine junge Frau war eines Morgens verschwunden, wie sich später herausstellte, hatte sie sich von einer Internetbekanntschaft, einem Typen von dem sie nur ein Bild und viele Versprechungen kannte, in der Nacht vor dem Kinderdorf abholen lassen und war mehr als 200 Kilometer entfernt erst Wochen später wieder aufgetaucht. Als sie dann von der Polizei zurückgebracht wurde, war sie für einige eine Heldin und weil die Gerichte Wichtigeres zu tun hatten und eh kein Platz in irgendeiner anderen Einrichtung war und so eine Ausreißerin eh keiner wollte, war sie geblieben. Weglaufen ist zwecklos. Irgendwann werden sie fast alle entdeckt, auf einer Insel gibt es kaum ein Entkommen, bei all den Polizeikontrollen und wo in den Dörfern wirklich jeder jeden kennt. Auch dieses Mädchen wurde von der Polizei zurückgebracht, nach der Flucht in eine Welt, die gar nicht so war, wie es sich die junge Frau erträumt hatte. Völlig entkräftet war sie Anfang Juni wieder da gelandet, wo sie vor fast genau vier Wochen eines Morgens einfach verschwunden war. Und dann kam der Juni in ein von der schlimmsten Wirtschaftskrise gebeuteltes Land. Es gab kaum noch Sprit, kaum Medizin, die Währung verfiel, die Preise auch für Grundnahrungsmittel explodierten. Der Präsident hatte sich im Privatjet abgesetzt und das sicher nicht mit leeren Händen, aber genau mit denen standen nun viele da. Einige erinnerten sich da, dass ihre Tochter, einst eine finanzielle Belastung, nun groß geworden war und Geld verdienen konnte und so entdeckten sie nach vielen Jahren „ihre Liebe“ und kamen ins Kinderdorf. Und weil der Wunsch oft, ja fast immer, stärker ist als Vernunft waren die betroffenen jungen Frauen begeistert, plötzlich doch eine Mutter, einen Vater, einen Onkel zu haben. Und auch bei den Behörden wollte man glauben, dass das schon gut ginge, es gab und gibt viel zu wenig Plätze für Kinder ohne Zuhause, also stimmte man offiziell zu. Und so begann der Exodus im Monat Juni 2022. Nie verließen uns so viele Jugendliche in so kurzer Zeit und wir mussten sie ziehen lassen. Klar weiß ich, dass Niemand bleibt, dass der Tag kommt, wo jede/jeder uns wieder verlässt, aber selten hatte ich vorher so oft das Gefühl, dass das, was jetzt für diese jungen Frauen kommen wird, mit großer Wahrscheinlichkeit nicht gut gehen wird.
Mit sage und schreibe 14 Jahren war Hirushi das Kind, das am längsten im Kinderdorf war, als die 16jährige am 11. Juni von ihrer Mutter abgeholt wurde, die sie als Baby hier abgegeben hatte. Bei so einem Abschied bleiben Anka und mir die Worte im Hals stecken. Abschied mit ZweifelnUnd so kam er, der Tag, an dem es für Hirushi, Samadhi, Aruni, Nirmala und wie sie alle heißen das letzte Mal war, dass sie mir „gute Nacht“ wünschten, beschützt und sicher hier schliefen. Das letzte Mal die gemeinsame Morgenmeditation, das Frühstück… Die Sachen waren gepackt, auch der Teddybär in orange oder rosa, den ich Ihnen an ihrem ersten Tag hier geschenkt hatte. Ein paar Formalitäten und die einen zogen durchs Tor, mit Verwandten, die Ihnen fremd waren.
Eine andere Gruppe brachte Anka zum Jugendamt der benachbarten größeren Stadt Bandarawella. Eine ließ sich gar abholen von ihrem Boyfriend, auch eine Errungenschaft aus dem Internet. Da war es auch kein Trost, dass schon Stunden später die ersten Neuen kamen, die dringen Schutz und Zuflucht brauchten. Sogar eine Ambulanz kam und brachte zwei Schwestern, die im Krankenhaus zusammengeflickt werden mussten, nachdem ihr Vater mit dem Messer auf ihre Mutter und auf die beiden Töchter losgegangen war, natürlich betrunken. Es ist unglaublich, welche Dramen sich oft abgespielt haben, wie viel Elend und Gewalt viele Kinder erleiden mussten, bevor sie ins Kinderdorf gebracht werden. Nicht immer sind die Verletzungen so offensichtlich, wie bei diesen beiden Schwestern, die mit der Ambulanz ankamen, kaum waren die ersten Plätze frei geworden.
Jedes einzelne Kind hinterlässt eine Lücke in meinem Herzen und immer stelle ich mir die für mich wichtigste Frage: Haben wir es geschafft, dieser jungen Frau oder auch diesem jungen Mann das Rüstzeug mitzugeben, das er in der Welt da draußen bestehen kann? Ist es uns vielleicht sogar gelungen unser Ziel in und durch diesen jungen Menschen zu verwirklichen: „Be happy and make happy“. Im Juni hatte ich da bei so Einigen meine Zweifel. Geschichte wiederholt sich immer und immer wieder! Die große Freiheit jenseits des Kinderdorfs lockt, gerade auch seit die virtuelle Welt der Smartphones die Wirklichkeit verzerrt und aus jedem Typen, der sich über Facebook meldet einen Traumprinzen macht.
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