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In einem Land in schwieriger Zeit

Gedanken zur Eröffnung des Krankenhausgebäudes in Kalmunai

Der Rücken schmerzt, die Arme tun weh, die Hitze hat die letzte Kraft aus mir gesaugt, diese Hitze die nicht nur von der tropischen Sonne kommt, die auf den alten Lastwagen herunterbrennt. Wir scheinen auf dem Motor zu hocken, der unter dem Fahrersitz glüht. Vor 7 Stunden sind wir im Kinderdorf aufgebrochen mit den wichtigsten Medikamenten, die von der Organisation „ Apotheker ohne Grenzen“ organisiert worden waren. Wie die das so schnell geschafft haben, ist mir ein Rätsel aber Rätsel gibt es so viele in diesen Tagen kurz nach der verheerenden Flutwelle. Die Straße in das Katastrophengebiet um die Stadt Kalmunai an der Ostküste Sri Lankas ist auch eine Katastrophe, eigentlich nur eine Aneinanderreihung von Schlaglöchern, wobei manche so tief sind, dass sie unserem alten Lastwagen mit seiner schweren Ladung wohl den Rest geben würden.
„Have to stopp, engine need rest“, meint Suresh, der mit mir abwechselnd unseren alten Lastwagen Richtung Osten steuert. Ich zeige mit der Hand ans Ende der Straße, wo eine Militärsperre sichtbar wird. „Anyway, we have to stop there again“, antworte ich ihm mit bleierner Schwere. Es ist bereits die fünfte Straßensperre auf nicht einmal 120 Kilometern.
Die Soldaten sind unruhig, verwirrt. Sie haben keine klaren Befehle, was man mit Hilfstransporten anfangen soll, die Flutwelle hat auch hier alles durcheinander gebracht.
„Ist für unsere Leute“, meint Suresh im singhalesischen Dialekt der Südküste. Er ist aus Galle und das macht Eindruck auf die Soldaten. Suresh ist einer von Ihnen. Obwohl auch seine Heimatstadt schwere Verwüstungen erlitten hat, ist der 33jährige Singhalese ohne Zögern ins Kinderdorf nach Koslanda gekommen um mit uns von dort die Hilfe, zunächst für die Ostküste, zu organisieren.
Mit diesem alten Lastwagen brachten wir dringend benötigte Hilfsgüter an die Ostküste. Anton und Suresh gehörten zu den Ersten, die die zerstörte Stadt Kalmunai erreichten.
Nur 3 Tage nach dem Tsunami war er mit meinem Sohn Manuel und drei Mitarbeitern das erste Mal unterwegs nach Kalmunai. Im August hatte Manuel ein soziales Jahr im Kinderdorf begonnen, nur 2 Wochen vor der Katastrophe hatte er seinen 18. Geburtstag gefeiert. Und nun stand der junge Mann vor einer ungeheuren Herausforderung. Im absoluten Chaos, das die ersten Wochen nach dem Tsunami beherrschte, musste er plötzlich Entscheidungen treffen, musste einen Weg finden, musste helfen, wo Hilfe nicht warten konnte.

Ich selbst war ja in Deutschland, mein erstes Weihnachten seit vielen Jahren dort, und kam so schnell als möglich zurück. Das hier ist mein erster Transport ins Krisengebiet, Suresh war schon 2 x da.
Längst haben wir Ampare passiert, die offiziell letzte sichere Stadt, heißt unter Kontrolle der Armee. Nun dehnen sich riesige Reisfelder aus, vielmehr das, was die Welle aus Schlamm und Trümmern und die nachfolgende Überschwemmung davon übrig gelassen haben.
Je näher wir der Küste kommen umso öfter sehen wir Zelte, oft nur Planen über Latten gezogen, hastig, ein provisorischer Schutz gegen den Regen. Die Menschen stürmen zur Straße, winken und wenden sich enttäuscht ab, als wir nicht anhalten. Kein Baum weit und breit nur eine Wüste aus Dreck und Schlamm.
Es wird dunkel als wir die Ostküste erreichen. Längst fahren wir durch ein einziges Trümmerfeld. Es wird dunkel und irgendwas stimmt mit der Lichtmaschine nicht. Sobald ich die Scheinwerfer anschalte, stirbt der Motor ab. Suresh setzt sich mit der Taschenlampe auf die Kühlerhaube, wir müssen beide lachen. Wenig später kapitulieren wir vor einer schwarzen Wasserfläche, unter der die Strasse verschwindet. Ich bin unendlich müde. Vor 38 Stunden bin ich in München aufgebrochen, habe auch die Tage davor nur wenig geschlafen. So viel galt es aus der Ferne zu organisieren, jetzt bin ich in einer ganz anderen Welt.
Vor gerade einmal 10 Tagen ging irgendwo da vor mir die Welt unter, zumindest für viele Menschen. Suresh erzählt mir, dass das Schlimmste ist, dass es so viele Vermisste gibt, dass man dann nicht Abschied nehmen kann, nicht loslassen. „Boss, you will see! Still they are surching, still they are hoping“.



„Die Hoffnung stirbt zuletzt!“ Auch Wochen nach dem Tsunami wuehlten verzweifelte Menschen in den Truemmern. Da ihre Angehoerigen nicht gefunden wurden, wollte auch diese Frau einfach nicht glauben, dass sie ihre Kinder und ihren Mann nie mehr wiedersehen wuerde.
Das Führerhaus ist zu eng und heiß. Stundenlang wird der Motor noch nachglühen. Hinten ist alles voller Medikamente. Wir legen uns auf die Strasse, dicht an den Lastwagen gedrängt. Ich bin sofort weg, merke nicht, wie ganze Scharen von Stechmücken über mich herfallen. Irgendwann in dieser Nacht ist das Jucken stärker als die Müdigkeit, ich wache auf mit geschwollenen Lippen und Augen, sogar dahin haben diese Viecher gestochen. Suresh sitzt auf der Motorhaube, bläst den Rauch der Zigarette in die Nacht. Ohne sich umzudrehen, so als rede er mit sich selbst meint er: „Boss, ich bin hier weil du mich gerufen hast. Aber auch meine Leute sind tot, auch meine Stadt ist zerstört.“ Dann dreht er sich um, seine Augen suchen nach mir in der Dunkelheit. „Boss, hilft du nach dem hier auch meinen Leuten in Galle?“
Ich lehne mich an die Kühlerhaube, die immer noch warm ist. „Suresh, ich weiß nicht was noch alles kommen wird und wie das hier alles einmal weitergeht. Aber ich verspreche dir, dass ich keinen Unterschied machen werde. Ich werde nie fragen, bist du Singhalese oder Tamile. Wenn wir zusammenhalten und alles versuchen, können wir eine Menge erreichen, auch bei dir daheim im Süden“.
Suresh nickt langsam. „O.k., wenn das hier vorbei ist, gehen wir nach Galle.
Es wird eine lange Nacht, mit vielen Stichen und noch mehr Gedanken.
Im Morgengrauen starten wir unseren Lastwagen. Er springt sofort an. Auch er gibt sein Bestes! „Lass es uns versuchen!“ meint Suresh und legt krachend den Ersten Gang ein. Die Kupplung scheint auch am Ende. Wir haben keine Ahnung wie tief das Wasser ist und wo genau sich die Strasse befindet, doch mit Geschick und Glück meistern wir auch dieses Hindernis.
Nie werde ich den Moment vergessen, als ich zum ersten Mal nach dem Tsunami die Ostküste erreichte. Trümmer, Leid und ein bestialischer Gestank. Wo sollte man da bloß anfangen?
Stunden später: Langsam schiebt sich unser Lastwagen, müde hupend, durch die dichten Menschenmassen, die das Ashraff Memorial Hospital umlagern. Wir sind da, werden bereits sehnsüchtig erwartet. Ein Moslem mit einer weißen Haube umarmt mich, wir laden aus.

5 Jahre und 8 Tage später.

Derselbe Moslem umarmt mich und wieder ist es keine leere Geste. Mein Gott, wie viel ist seitdem passiert, wie sehr hat sich mein Leben und auch dieses Land verändert. Kein Tag ist vergangen ohne dass ich im Schatten des Tsunami stand. So viele Kämpfe für ein Versprechen, das ich Anderen mehr aber noch mir selbst gegeben habe.

Heute werden wir das große Versorgungsgebäude für das Ashraff Memorial Hospital in Kalmunai einweihen.
Diesmal bin ich nicht mit dem Lastwagen gekommen sondern mit einem Bus und ich habe nicht Medikamente mitgebracht sondern viele meiner Kinder aus dem Dorf in den Bergen und aus den Little Smile Kinderhäusern im Osten Sri Lankas.

Mein Gott, wie viele Probleme und Schwierigkeiten gab es, nicht nur aber eben auch beim Bau dieses Gebäudes. Vor mehr als 4 Jahren haben wir den Grundstein gelegt im Morast und Schlamm. Der Architekt, der Ingenieur und auch der Bauunternehmer haben versucht zu betrügen, irgendwann musste ich mit meinen Leuten weitermachen. Vom Staat war keine Hilfe zu erwarten, im Gegenteil. Die wollten von den Hilfsgeldern nur Steuern kassieren.

Viel, viel Kraft haben diese 5 Jahre gekostet, mehr als für einen Menschen gut sein kann. Aber wir haben nie aufgegeben, durchgehalten. Die Verantwortlichen der Organisation „Apotheker ohne Grenzen“, die dieses Gebäude finanziert haben, zeigten stets Verständnis und machten mir klar, wie professionell und flexibel gerade so eine relativ kleine Organisation arbeiten kann.

Und wieder wird in Sri Lanka gestritten und wieder gibt es Tote. In 13 Tagen wird der Präsident gewählt und da haut man sich in diesem Land nicht nur Argumente um die Ohren.
Trotzdem oder vielleicht sogar gerade deshalb wollten wir an diesem 13. Januar 2010 ein Zeichen setzen. Hier haben Menschen aus Deutschland, haben Singhalesen und Tamilen gemeinsam etwas zustande gebracht. Hier ist nicht ein Cent für Korruption und Provisionen abgezweigt worden. Mag sein, dass diese Eröffnung in Deutschland keine Zeile wert ist, dass sie dort Niemand interessiert. Mag sein, dass wir auch von den Medien hier mit Nichtbeachtung gestraft werden, nachdem meine Bedingung war, dass hier keine Wahlkampfpolemik Platz haben darf.
Wie schon bei der Grundsteinlegung ist Ferial Ashraff gekommen, die einzige weibliche und auch noch moslemische Ministerin im Parlament. Nach Ihrem Mann, der ermordet wurde, ist das Krankenhaus benannt.
Ich habe Bilder mitgebracht, die Kinder, die den Tsunami erlitten haben, gemalt haben. Jedes der Bilder, die wir noch gestern Nacht gerahmt haben, erzählt eine Geschichte, intensiv und erschütternd. Hier, so spürt Jeder, den ich durch die Ausstellung im zweiten Stock führe, hier ist kein Platz für leere Worte und für Getöse.

Hier haben Menschen verstanden, was es bedeutet Mensch zu sein, menschlich zu handeln.

In großen Saal einen Stock tiefer, warten mehr als 100 Little-Smile-Kinder, teilweise aus unseren Mädchenheimen im Osten, teilweise aus dem Kinderdorf in den Bergen. Auch Ulrich Brunner und Jochen Schreck, die Vertreter von Apothekern ohne Grenzen, spüren, dass dieses Gebäude nicht nur aus Stein, Zement und Eisen errichtet wurde.

Es ist ein schönes, weil ehrliches Fest ohne Pomp und Getöse, ein guter Start.

Am Abend werden wir wieder zurückfahren ins Kinderdorf, zwei Tage später muss ich nach Galle an die Südküste. Auch dort steht eine Schule, ein Begegnungszentrum steht kurz vor der Fertigstellung. Wie ich es damals in dieser langen Nacht Suresh versprochen habe, ich habe alles versucht und wir sind gemeinsam vorangekommen auf dem langen Weg zu mehr Menschlichkeit in einem Land in schwieriger Zeit.