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Nachtgedanken

Der gar nicht normale Wahnsinn an einem Montag im März 2021

Ruhe, endlich! Einen Moment nachdenken bevor die Müdigkeit mich übermannt. Ich öffne alle Fenster, die Hitze des langen Tages soll entweichen, Platz machen der Kühle der heute sternklaren Nacht. Ein paar Affen sind in Streit geraten oder haben einen Feind entdeckt, ihr Gekreische hat einen Pfau geweckt der nun seine Warnschreie in die Dunkelheit brüllt. Dann wieder Ruhe, nein, Ruhe ist das falsche Wort, ruhig ist es nie hier im Kinderdorf Mahagedara im Bergurwald Sri Lankas. Entfernt bellen Hunde, Zikaden zirpen, von den Reisefeldern unten im Tal, wie eine ferne Brandung, das Quaken zahlloser Frösche, mal leiser dann wieder lauter, ein Gespräch wohl mit zahllosen Teilnehmern sobald einer – oder ist es eine - anfängt. Irgendwo zwischen Dachziegeln, der Isolation und der Holzdecke nagt ein Streifenhörnchen, vergrößert wohl sein Nest. Die Holzlatten geben die Geräusche der Zähne weiter wie der Resonanzkörper eines Instruments. Man kann nur hoffen, dass auch diese Tiere irgendwann müde werden, es gibt keinen Schutz vor ihnen, egal wie man jeden möglichen Eingang versperrt, vernagelt, sie finden einen Weg. Die Geckos, hier Unas genannt, diese Amphibien im Miniformat, die hier an den Mauern, Decken, in jeder Ecke hausen, höre ich schon gar nicht mehr mit ihrem Meckern, ihr Kot am Morgen freilich ist allgegenwärtig, unübersehbar und der Gestank penetrant. Eine Fledermaus hat sich durch das offene Fenster in mein Zimmer verirrt, schießt auf mich zu, weicht im letzten Moment aus, spüre den Windzug in meinem Gesicht, den Haaren. Nachtfalter und fliegende Termiten umschwirren die Lampe, haben wohl die Fledermaus angezogen, die sich nur schwer verjagen lässt. Schnell schließe ich das Fenster wieder.
Ich setze mich hin, die Bilder des Tages in meinem Kopf und nicht nur dort. Kein Tag gleicht dem vorausgegangenen und Nichts ist wirklich vorhersehbar. So lange alle Kinder, alle Mitarbeiter gesund durch den Tag kommen, weder in den Farmen noch auf den vielen Baustellen ein Unfall passiert ist, war es ein guter Tag. Doch heute war es leider kein guter Tag sondern einer, bei dem man sich nichts mehr wünscht als dass man die Uhr einfach zurückdrehen könnte, wenigstens zum Morgen, nach einmal anfangen kann, diesen ersten offiziellen Schultag nach endlosen Coronaunterbrechungen.

Ein nicht ganz normaler Wochenstart

Es geht rund an diesem Montagmorgen im März 2021. Fünf verschiedene Gruppen müssen vor 7 Uhr fertig werden, zwei für unsere interne Schule und drei für verschiedene Schulen draußen. Die 12 tamilischen Kinder, die wir in die über eine Busstunde entfernte Schule in Haputale geschickt haben, weil sie dort ernsthaft unterrichtet werden, ganz im Gegensatz zur tamilischen Schule in unserem Nachbarort, sind da längst auf dem Weg.
11 Mädchen haben ihre schulischen Pflichtjahre hinter sich gebracht, überwiegend mit sehr mäßigem Erfolg, 8 von Ihnen bekamen wir innerhalb des letzten Jahres vom Gericht zugewiesen, keine von Ihnen konnte da auch nur die Grundrechenarten, ja nicht einmal vernünftig lesen und schreiben. Sie beginnen heute hier im Kinderdorf mit einem Training in unserer Nähschule.

Elefanten haben in der Nacht den Schutzzaun in der Farm in Rajagiri durchbrochen, der Schaden ist noch unklar, eines unserer jungen Pferde in der Farm in Dikapitiya ist verschwunden, es ist schon in diesen frühen Morgenstunden warm, sehr warm, wird wohl wieder ein heißer Tag.

Ich erinnere mich daran, wie schwer es am Vormittag für mich war, einfach nur weg zu kommen. Musste unbedingt in unser Ayurvedaausbildungszentrum ins 40 Kilometer entfernte Buttala, eine Fahrt von mindestens 90 Minuten, doch die Schlange der Menschen, die am Tor warten, war lang, sehr lang. Manche waren seit gestern unterwegs in der Hoffnung, in Little Smile einen Platz für ein Kind, etwas Geld oder einen Job zu bekommen

 


 

Es brennt

Sitze endlich im Auto da kommt der Anruf unserer Betreuerin aus Hill Top. Es brennt, lichterloh. Für Manomani ist das eine neue Situation. Seit sie die Betreuung unserer großen Jungs in Hill Top von Bawani übernommen hat, die ihrerseits in unser Projekt nach Buttala ging, gab es noch kein größeres Feuer. Nun aber ist das passiert, was ich schon lange befürchtet habe. Die wilden Camper an den oberen Wasserfällen des Diyaluma haben ihre illegalen Lagerfeuer am gestrigen Sonntag nicht richtig gelöscht, etwas Wind, die strohtrockenen Berghänge … Als Manomani beim Rundgang das Feuer entdeckt, hat es bereits in weiten Teilen unseres Berggrundstücks verheerenden Schaden angerichtet, einen Teil der mühsam angelegten Plantage zerstört. Ich schwinge mich aufs Motorrad, die kleine Straße hoch nach Hill Top ist längst von dem Bautrupp zerstört, der hier, unterstützt von internationalen Hilfsgeldern, seit fast 3 Jahren eine Monsterstraße in den Berghang sprengt. Fortschritt nennt man das, auch wenn wirklich Niemand sagen kann, wofür dieser Highway der in einem Bergtamilendorf enden wird, gut sein soll. Klar, alle Beteiligten verdienen eine Menge, Straßen sind Goldadern für die, die sie bauen und besonders für die, die sie genehmigen. Nur mit dem Motorrad schaffe ich den Weg derzeit auf dem, was die Fortschrittsbringer von unserer einst kleinen aber feinen Bergstraße übriggelassen haben, bevor sie abgezogen wurden, weil woanders einen Fortschrittstraße sie dringender braucht und es da noch mehr zu verdienen gibt.
Oben in Hill Top beruhige ich Manomani, ich versichere ihr, dass es das Feuer nicht auf die andere Seite zu unseren Bubenhäuser und dem Bungalow schaffen wird. Ich sollte mich leider täuschen. Bawani ruft aus Buttala an: „Lokuthatha, wo bleibst du, die Leute, die den neuen Elefantenschutzzaun gebaut haben, warten schon und auch der Elefantenminister ist schon da. Elefantenminister, wusste nicht mal, dass es sowas gibt.
Auf dem Weg nach Buttala gerate ich in den Schulverkehr, Busfahrer jagen um enge Kurven als gäbe es nur sie und ihren persönlichen Schutzengel. Von Wellawaya hoch quälen sich zahllose Lastwagen, schwer beladen mit Schottersteinen. Überall werden Straßen gebaut damit man auch in die letzten Ecken den Fortschritt bringen und die Natur beseitigen kann. Es ist unglaublich heiß in Buttala, zwei unserer Kinder haben die letzten Wochen bei Bawani gelebt und viel gelernt, jetzt ruft die Schule wieder also werde ich sie mitnehmen. Ich höre mir an, was die Zaunbauer zu sagen haben, all ihr Reden kann nicht verbergen, dass sie ihren Auftrag nur teilweise erfüllt haben, es gibt von mir also nicht die erhoffte Abnahme. Kläre das aber leise, immerhin erhoffen sie sich vom Elefantenminster weitere Aufträge. Rede meinen Arbeitern gut zu, die ich schon am frühen Morgen mit einem weiteren Wassertank vom Kinderdorf hierher geschickt habe. Es hat wochenlang nicht geregnet, unsere Zitronen- und Orangenplantagen sind in Gefahr, die Speicherseen sind fast leer. Der Stress mit den Elefanten genügt wohl nicht!
 

Ein fast tödliches Abenteuer!

Ich stehe im Feld, mein Schädel glüht, es ist unglaublich heiß, Kopfschmerzen signalisieren mir, dass ich unbedingt Wasser trinken sollte, dabei hasse ich dieses gechlorte Etwas, das hier aus den Leitungen fliest, wenn es denn fliest. Da kommt der Anruf von Anka. Ihr Stimme klingt aufgeregt, ja zittrig. „Es ist was Schlimmes passiert“, höre ich sie sagen und alle möglichen und unmöglichen Gedanken schießen mir durch den Kopf. Es dauert etwas, bis ich Ihre Geschichte kapiere, so unglaublich ist sie:  Zwei unserer Jungs, Akash (14) und Manomanis Sohn Rogith (13) haben am Mittag den Schulbus noch mal verlassen weil der lange nicht losgefahren war, ließen die Schultasche mit dem Monatsbusticket drin. Und dann war der Bus plötzlich gestartet! Mehr als einen Kilometer liefen die Zwei hinter dem Bus her, die steile Straße von Haputale runter nach Beragalle, 800 Höhenmeter auf nicht einmal 7 Kilometer, enge Kurven, Abhänge von mehreren hundert Metern. Irgendwann konnten sie nicht mehr, versuchten Autos aufzuhalten aber niemand nahm sie mit. Sie wussten, dass der Bus in Beragalle etwa 15 Minuten halten wird. Wie sie dann auf die Schnapsidee gekommen sind, sich einen Three Weeler „auszuleihen“, der am Straßenrand geparkt stand, wo doch keiner von den beiden Jungs jemals so ein Fahrzeug gelenkt hatte? Offensichtlich hatten sie nur ein Ziel: „Wie erreichen wir den Bus, weil ohne Geld und ohne Ticket, wie sollen wir denn heimkommen?“ Und da stand er, der Three Weeler, rot, allein. Im Leerlauf würde das schon klappen, Arkash hatte bei einem Besuch seinem Onkel ganz genau zugeschaut, wie das mit dem Fahren geht. Klar konnte er das! Weit und breit Niemand, dem der Three Weeler gehörte, das Abenteuer konnte beginnen und ging nicht lange gut: Im Leerlauf eine der gefährlichsten Straßen des Landes runter, schwierig genug für einen geübten Fahrer aber absoluter Wahnsinn für einen Anfänger.  Arkash, der gefahren war, sei unverletzt, sitze völlig geschockt und verstört bei der Polizei in Haputale, die von schwerem Raub spricht, ihn anklagen will.  Der kleine und immer so vorsichtige Rogith dagegen sei schwer verletzt, Genaues wisse man nicht. Er sei im Krankenhaus, werde wohl in die große Klinik in die Provinzhauptstadt Badulla gebracht. Ich rufe Manomani an, sie weint, heult, fleht, stammelt. Ich schicke meinen ruhigsten und besonnensten Mann, den Buchhalter Sanchia, zu ihr hoch, er soll mit ihr ins mehr als 2 Stunden entfernte Krankenhaus fahren, Lucian, der auch im Büro arbeitet, schicke ich zur Polizei nach Haputale. Arkash braucht jetzt weder Drohungen noch Strafe, Gefängnis schon gar nicht. Der Besitzer des Three Weelers muss beruhigt werden, darf keine Anzeige machen …

Es muss und wird weitergehen

Anka muss organisieren, wie es jetzt auf Hill Top weitergeht, das Manomani Hals über Kopf verlässt. Noch immer wütet dort das Buschfeuer, die Jungs sind durcheinander und auch die Kinder in Mahagedara haben die Hiobsbotschaft erfahren, müssen durch den normalen Tagesablauf beruhigt werden.
Ich fahre zurück, überall dumme, rücksichtslose Fahrer, Jeder gegen Jeden, das Motto scheint auf den Straßen: nach mir die Sintflut und sowieso gilt immer das Recht des Stärkeren.
Sanchia schafft es erst kurz vor Mitternacht den völlig verstörten Akash von der Polizei zurück nach Hill Top zu holen, ich werde Ihn gleich in der Früh runterbringen ins Kinderdorf. Manomani ist nicht mehr erreichbar. Erfahre nur so viel, dass ihr Sohn Rogith beide Beine mehrfach gebrochen und viele weitere Wunden hat. Ich versuche den Gedanken zu verdrängen, dass fast genau vor zwei Jahren im gleichen Krankenhaus, indem er jetzt liegt, unsere 5jährige Oshi an einer Blutvergiftung gestorben ist. Es gelingt mir nicht! Hier darf man einfach nicht krank werden. Es ist wie ein Wunder, dass in den 22 Jahren, in denen ich mich in dieser abgelegenen Region Sri Lankas um so viele Kinder und Jugendliche gekümmert habe, nicht mehr passiert ist. Als Trost taugt das freilich gerade auch nicht.


 

Corona und kein Ende

Wie weit sind die Sorgen von Gestern weg, etwa die Tatsache, dass man die Kinder wieder in die öffentlichen Schulen befiehlt, just als Corona auch den letzten Winkel des Landes erreicht hat, auch in unserem Nachbardorf Koslanda allgegenwärtig ist. Kriegt man halt kaum mit, weil nie getestet wird und wenn es dann doch zu offensichtlich ist, dass sich da Jemand angesteckt hat, gibt es halt Quarantäne. Ob wir hier im Kinderdorf schon Corona hatten oder gerade haben? Selig die Unwissenden, besonders wenn es im Notfall eh keine Möglichkeit einer Behandlung geben würde. Als ich Gestern am Abend hier saß und in die Nacht hinausblickte, da war ich dankbar gewesen für die viele Freiheit in einer Zeit der weltweiten Unfreiheit. Ich hatte mir versucht vorzustellen wie es jetzt ist in der alten Heimat, wo soziale Kontakte verboten oder doch massiv reduziert sind, den Menschen immer neue Einschränkungen abverlangt werden während Politiker im besten Fall ahnungslos, im schlechtesten Fall korrupt und gierig agieren? Ist das noch das Deutschland, das ich vor gut 20 Jahren verlassen habe? Ich war dankbar gewesen, dass mich mein Schicksal hierher geführt hat, allen Widrigkeiten zum Trotz. Und heute, weit nach Mitternacht, schlaflos in die Nacht lauschend? Wie würde ich mir ein gutes Krankenhaus wünschen, Menschen mit Fachwissen und Empathie wie meine Schwester Daniela, Ärzte, die einem sagen was los ist und nicht nur ständig abwesend sind auf der Jagd nach Geld in privaten Kliniken.

Ein neuer Morgen

Die Geräusche draußen, sie haben sich verwandelt, in der Ferne kräht ein Hahn, der Ruf einiger Morgenvögel, die ich noch nie gesehen und doch schon so oft gehört habe. Das dunkle Schwarz des Himmels hat einen Stich ins Graue bekommen, die Sterne verblassen.
Von mir unbemerkt hat ein neuer Tag begonnen und ich kann nur hoffen, dass es keiner wird wie der gerade vergangene. Sicher ist nur, dass ich Kraft brauchen werde, viel Kraft für den verunglückten Jungen und seine Mutter, für all die Kinder hier und in Hill Top, wo es immer weiter brennt und für all die Herausforderungen und Probleme, die der neue Tag mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit mit sich bringen wird.

Nachtrag: Ende der gleichen Woche wird nicht weit entfernt vom Kinderdorf ein Bus in eine Schlucht stürzen, weil weder der Busfahrer noch ein entgegenkommender Lastwagenfahrer nachgeben und anhalten wollten. 18 Menschen sterben unter Ihnen auch der Busfahrer. Die Toten wie auch die etwa 30 Schwerverletzten werden in das Krankenhaus gebracht, indem Rogith und seine Mutter Manomani auf Besserung und einen Operationstermin hoffen.