Besucher seit Januar 2005: 980675

Weit, weit weg und doch ganz nah!

oder — Die zwei Gesichter der alten Heimat

Wer kennt das nicht? Man geht auf ein Klassentreffen, will die Kumpels und tollen Mädels wiedertreffen und es kommt ein Club älterer Herrschaften, einzige Ausnahme ist man natürlich selbst, eh klar. Während man sich nämlich an das eigene Altern in kleinen Schritten gewöhnen konnte, hatte die Erinnerung die Schulzeit und alle darin handelnden Akteure eingefroren.
Geht es mir genauso, wenn ich an mein Leben in Deutschland denke, vielmehr an das Deutschland, das ich vor mehr als 20 Jahren verlassen habe? Erliege ich der Versuchung das Vergangene, irgendwie ja Verlorene, zu verklären oder was ist der Grund, dass mir die Heimat von einst heute so fremd scheint?

Faktencheck! Rückblende ins Jahr 2000.

Allen Verschwörungstheorien zum Trotz war die Welt zur Jahrtausendwende nicht untergangen, ja nicht mal die Computersysteme waren, wie vielfach prognostiziert, zusammengebrochen, wobei Computer und Internet noch eine sehr untergeordnete Rolle spielten. Kaum zu glauben: Facebook und Co waren noch nicht mal erfunden und hatten daher auch noch nicht die Macht an sich gerissen zusammen mit anderen Internetriesen.

Altkanzler Helmut Kohl gab seine „Ehrenwort-Erklärung“ und verriet nicht, wer ihm in fünf Jahren 2 Millionen Mark für die Parteikasse der CDU gegeben hatte. Immerhin, Wolfgang Schäuble zog Konsequenzen und gab den Parteivorsitz auf.
Der Pharmakonzern Pfizer war schon damals unvorstellbar reich, machte viel Geld, nein, nicht mit einem Virus, sondern mit der Potenzpille „Viagra“. Äthiopien und Eritrea beendeten ihren Krieg, die Großmächte bemühten sich um nukleare Abrüstung und in Deutschland wurde die gewaltfreie Erziehung von Kindern per Gesetz festgeschrieben.
Zwei Anschläge gegen Synagogen und rechtsradikale Aufzüge gab es leider auch schon damals, aber dagegen gingen 300.000 Menschen auf die Straße und die NPD wurde verboten.

Trügerische Hoffnung

Mit dem neuen Jahrtausend hofften wir alle auf eine Zeitenwende – zum Guten und es ging ja auch überwiegend positiv los, gab sogar noch ordentliche Zinsen auf Erspartes.
Der Ost-West-Konflikt war Vergangenheit, Russen und Amerikaner saßen in der gleichen Raumkapsel, 9-11 lag noch in der Zukunft und so war auch noch kein Kreuzzug gegen den Terrorismus und damit auch gegen viele Freiheitsrechte ausgerufen. Der sogenannte „arabische Frühling“ hatte noch nicht begonnen und war deshalb auch noch nicht blutig unterdrückt worden, das Mittelmeer gehörte daher noch den Urlaubern und Fischern und niemand hätte sich vorstellen können, dass dort einmal Menschen auf Rettungsboten, auch mit deutscher Hilfe, zurück ins Meer und damit in den Tod geschleppt werden. Verschmutzung der Umwelt war noch ein Privileg des Westens und der USA und daher für diese noch eher verkraftbar, glaubten wir zumindest. China war noch weit weg! Tja, und dass von dort einmal ein Virus kommen sollte, der die Welt erschüttert, einige noch reicher und viele ärmer machen würde, das konnten sich nur durchgeknallte Drehbuchautoren vorstellen. Heute wissen wir, es kam ganz anders und nach gut 20 Jahren in diesem Jahrtausend scheint nichts mehr so wie es vorher war.

Die letzten zwei Jahrzehnte in Sri Lanka

Und ich? Ich saß – und sitze - im Bergurwald Sri Lankas, versuchte jeden Tag aufs Neue Kindern in Not dauerhaft zu helfen, wurde dafür belogen, betrogen und angefeindet, geriet in den Bürgerkrieg und in eine beispiellose Naturkatastrophe, den Tsunami 2004, erfuhr danach sehr viel Hilfe und Unterstützung aus der alten Heimat, musste, um dem in mich gesetzten Vertrauen gerecht zu werden, mein Leben in Deutschland ganz aufgeben und wurde dort ziemlich schnell vergessen, fast überall jedenfalls.
 

 

Heimat ist mehr als ein Ort

Seine alte Heimat, wo man als Kind seine ersten Erfahrungen mit der Welt und als Jugendlicher seine ersten Beulen abbekommen hat, die vergisst man nicht, die lebt weiter, tief in einem drinnen. Man kann an ihr leiden – aber irgendwie wird man sie immer lieben. Die Heimat schmeckt anders, riecht anders, ihre Sprache, Kultur ist uns nahe, wir sind Teil von ihr und werden es immer bleiben, auch ganz weit weg. Dass ich freilich sogar mal stolz sein würde auf Deutschland, hätte ich nie gedacht, komme ich doch aus einer Generation, deren Väter und Großväter mit ihrem Nationalstolz die Welt verwüsteten. Aber ich war stolz, als die Bundeskanzlerin Angela Merkel die Grenzen für Menschen in Not öffnete. „Wir schaffen das!“ Wie oft wurde sie für diesen Satz gerügt, geschmäht, angefeindet, mich hat er stolz gemacht und ich glaube noch heute, dass man das geschafft hätte, wären nicht Neid und Missgunst so schnell zurückgekommen und Menschlichkeit diffamiert worden. Das Unwort des „Gutmenschen“ wurde für mich zum Inbegriff dafür, dass man Werte, meine Werte, auf den Kopf stellen kann. Deutschland wurde mir langsam fremd. Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Nazis im Bundestag, ich dachte wirklich, dies sei in meiner alten Heimat nicht mehr möglich.

Covid 19 – grenzenlose Macht

Und dann kam Covid 19 mit all seinen Mutationen und sezierte uns Menschen:
Zuerst wurde lange weggeschaut, danach kam die große Zeit der Krisengewinnler wie Amazon, die ohne Steuern zu bezahlen und nun auch noch von Konkurrenz befreit, den großen Reibach machen konnten. O.K., Großkonzerne waren immer so, kann man da einwenden und hat wahrscheinlich sogar recht. Aber dass selbst in Deutschland Politiker Gesetze beschließen, angeblich zum Schutz der Menschen und dann an den angeordneten Maßnahmen kräftig mitverdienen, selbst wenn diese wirkungslos sind wie viele der sogenannten Schutzmasken und dass solche Politiker, wenn sie erwischt werden, damit durchkommen… Wen wundert da die Staatsverdrossenheit.
Das Theater um das Impfen freilich macht mich dann völlig sprachlos. Während hier die Menschen Tag für Tag und fast immer vergeblich für eine Impfung anstehen und noch nicht einmal wissen, was Ihnen da gespritzt wird, nur dass es aus China kommt, während ich seit Monaten vergeblich versuche, an einen anerkannten Impfstoff zu kommen, vergeblich und jetzt nicht einmal mehr Impfstoff aus China verfügbar ist, während man Corona-Tests nur privat kaufen kann, 10 x so teuer wie in Deutschland, toben dort Straßenschlachten, weil man den einzigen Schutz für sich und für Andere, den es derzeit gibt, nicht will. Klar, jedem gehört sein Körper aber solange es keinen Impfstoff für Kinder gibt, so lange die deshalb nicht oder nur eingeschränkt in die Schule gehen können, solange Menschen schwer erkranken und sterben, die man durch eine Impfung Aller hätte retten können, so lange gibt es eben nicht nur den eigenen Körper, sondern eine Verantwortung, die über das eigene Ich hinausgeht. Wenn überhaupt, lassen sich offenbar Viele nur impfen, weil sie damit wieder mehr Freiheiten bekommen, reisen können während hier fleißig weiter gestorben wird, weil kaum Impfstoff vorhanden ist.
Um so bizarrer für mich die Diskussion dort um gendergerechte Sprache, dieses Scheingefecht, das lautstark in den Medien ausgetragen wird, während unsere Welt gar nicht mehr langsam vor die Hunde geht. Das Mittelmeer brennt, Deutschland erlebt eine nie gekannte Flutkatastrophe, in Afghanistan wird ein ganzes Volk Barbaren aus dem Mittelalter überlassen und die einzige Sorge dort scheint, dass einige Menschen dem Wahnsinn dort, den wir Ihnen mit eingebrockt haben, entkommen könnten und als Flüchtlinge an unsere Türe klopfen könnten. Wir rasen auf einen Abgrund zu, niemand kann sagen, er hätte es nicht gewusst und es passiert … fast nichts.

2021 – im Urlauberparadies

Auch hier vor dem Kinderdorf wird weiter gerodet, wird gerade eine Straße, die den Westen der Insel mit dem Osten verbinden soll, mit brachialer Gewalt in den Berg gesprengt, auch hier werden Tag für Tag die Bergwälder angezündet, stehen die Motorsägen nie still, aber die meisten Menschen auf dem Land in Sri Lanka wissen es nicht besser oder können wirklich nichts tun. Und so kämpfe ich meinen Kampf gegen Windmühlen weiter, stehe immer wieder auf, pflanze zum X-ten Mal obwohl Wildschweine, Affen und Elefanten die Ernte zerstören werden. Auch sie sind Opfer, wissen es nicht besser. Aber die Menschen in der alten Heimat, die wissen es doch, wir haben es doch schon damals gewusst.

2021 in Deutschland

„Denk ich an Deutschland in der Nacht …“ Ja, ich bin oft wach, versuche zu verstehen, meine Gefühle zu sortieren. Corona hat einen Besuch 2020 und 2021 in der alten Heimat unmöglich gemacht, Corona hat mein Deutschland verändert, Nähe wurde gefährlich, Umarmungen verpönt, gemeinsames Erleben verboten, soziales Leben nahezu unmöglich gemacht. Was wird mich erwarten, sollte ich eines Tages doch wieder nach Deutschland reisen können? Ist es nicht besser, ich behalte diese meine Heimat in guter Erinnerung und belaste nicht mit einem Flug um die halbe Welt diese unsere Welt?

Heimweh

Mein Gott, manchmal vermisse ich das, was ich als Heimat empfinde so sehr, dass es physisch weh tut. Es sind so viele Kleinigkeiten und es sind ganz besonders Menschen, die in unserem Kopf, in unserem Herz herumspuken, weil man sie schon so lange, viel zu lange entbehrt. Es sind meine Kinder, ein Teil meiner Geschwister und Freunde, die mir durch Raum und Zeit nahe geblieben sind… Und da sind auch all jene, die mit mir diesen Traum träumen von einer besseren Welt. Einige durfte ich persönlich kennenlernen, von vielen kenne ich nur die Namen. Ihr Vertrauen verpflichtet, ihr Glaube an Menschlichkeit gibt Zuversicht, sie geben mir das Gefühl, nicht allein zu sein, sie sind Heimat, die dann plötzlich ganz nahe ist.