Besucher seit Januar 2005: 1.013.153

Der Zyklon und das Kinderdorf

Wenn draußen der Weltuntergang geprobt wird

Es kommt dunkel, ja schwarz über den Bergkamm, da wo Haputale liegt. Innerhalb weniger Minuten ist der Berg verschwunden, verschluckt von etwas Gewaltigem. Ich rufe die Kinder: “Fast, fast, take your dresses from the rack, soon it will rain!” Ich habe recht und auch wieder nicht, denn das, was wenige Minuten später vom Himmel kommt, hat nur wenig mit dem Regen zu tun, den wir hier kennen, vielmehr passt da die Redewendung „der Himmel öffnet seine Schleusen!“ Und, er wird sie lange nicht mehr schließen, zu lange!
Es wird dunkel als sei es Nacht obwohl es erst 3 Uhr am Nachmittag ist. Es kracht, blitzt und donnert, aber das beschreibt das Höllenspektakel sehr unzureichend, das über Sri Lanka und da ganz besonders über die Bergregion und damit auch das Kinderdorf Little Smile hereinbricht.

Mich hat diese Generalprobe eines Weltunterganges im größten Kinderhaus erwischt, wo ich helfe, die Wäsche in Sicherheit zu bringen. Im Moonlight Haus leben derzeit 31 Kinder, darunter auch unsere Jüngsten und die Kleinen mit Beeinträchtigungen, also die Kinder, die besondere Hingabe und Betreuung benötigen. Beim ersten gewaltigen Blitz und dem nahezu zeitgleichen, peitschenähnlichen, ungeheuren Donner schreien die meisten auf, nach dem Donner beginnen sie zu heulen. Innerhalb von Sekunden hängen vier der Kleinen an mir, tränenüberströmt, vor Angst wimmernd. „Lokuthaththa, Lokuthaththa!“ mehr bringen sie nicht raus, aber ich höre die im geschrienen Schluchzen versteckte Aufforderung, diesem Höllenspektakel ein Ende zu bereiten.
 

Es ist Nacht geworden, ohne Nacht zu sein, der Strom ist schon beim ersten Blitzschlag, der unmittelbar in der Nähe in einen der mächtigen Bäume gefahren ist, ausgefallen, er wird für drei lange Tage und drei noch längere Nächte nicht wieder kommen. Und dann, als wäre ein Schalter umgelegt worden, beginnt der Regen, ganz kurz nur riesige Tropfen und danach ein Trommelwirbel ungeheurer Lautstärke auf dem Blechdach des Hauses, sodass wir uns nur noch schreiend verständigen können. Dikshi, die leitende Betreuerin des Hauses tut was sie kann, versucht zu beruhigen, obwohl auch sie Angst hat. Wieder taucht ein Blitz die Gesichter mit den aufgerissenen Augen in grelles Licht, wieder wird der ohrenbetäubende Donnerschlag vom Aufheulen der Kinder beantwortet.

Die Welt draußen, immer wieder von den Blitzen kurz erhellt, versinkt im Regen, man sieht nur wenige Meter, sie geht unter.
Mein Gott, denke ich, was ist mit den anderen Kinderhäusern und wo ist Anka gerade? Hatte sie nicht Unterricht in unserer Schule? Wie soll sie da jetzt hochkommen?

Mir fällt das Mädchen aus unserer Nachbarschaft ein, das ihrer Mutter das Mittagessen aufs Reisfeld bringen wollte. Der Blitz hatte allen Hoffnungen der Mutter und allen Träumen der 12jährigen ein tragisches Ende bereitet, ich habe geholfen, ihr wenigstens ein würdiges Begräbnis zu geben, mehr konnte ich nicht tun.

Gewitter in den Bergen sind gefährlich, aber dieses Gewitter heute ist nicht mit normalen Maßstäben zu messen. Mit etwas Verzögerung ist auch der Wind aufgewacht, was sage ich, das ist kein Wind, es ist ein Sturm. Er zerrt an den Dächern, fährt durch die Vordächer, reißt und rüttelt, ein Fenster auf der Rückseite des Hauses haben wir vergessen zu verriegeln, es zersplittert krachend, wir hören nichts, alles wird von einem infernalen Konzert aus Sturm, Regen und Donner verschluckt. Die siebenjährige Senuki kommt, sie blutet, ein Glassplitter steckt in ihrer Schulter. Sie schaut ungläubig, verdutzt, ich muss ins Mainhaus, das gut 300 Meter die Straße hoch den Beginn des Kinderdorfes markiert. Hier haben wir unseren Medizinraum. Den Regenschirm traue ich mich bei diesem Gewitter nicht aufspannen, er könnte den Blitz anziehen, außerdem würde der Sturm ihn vermutlich nach wenigen Metern zerfetzen. Bevor ich mich in dieses Armageddon stürze, schicke ich Senuki mit der 17jährigen Betreuerin Hansi in eines der Zimmer, denn sobald eines der Kinder die Blutende sieht, bekommt es noch mehr Angst. Senuki ist immer noch still, trägt ihre Verletzung fast wie eine Auszeichnung. Vorsichtig entferne ich den Splitter und atme erleichtert auf, es hat aufgehört zu bluten. Ich zeige der jungen Betreuerin, wie sie ein sauberes Tuch auf die Wunde drücken soll und verspreche, bald mit Medizin zurück zu kommen. Ich ziehe den Kopf zwischen die Schultern, lasse mein Shirt im Moonlight Haus zurück und werfe mich gegen die Wand aus Wasser und Wind. Im Mainhaus treffe ich auf Anka, auch sie ist völlig durchnässt, hat dort eine Gruppe von vor Angst und Kälte zitternder Kinder um sich versammelt. Hier trommelt der Regen wenigstens nicht ganz so laut, ist das Dach doch aus Eternit. Ich berichte ihr von Senukis Verletzung, beruhige sie, dass keine größere Ader erwischt wurde, die Blutung bereits gestoppt ist. Anka hat den Kindern hier eine Geschichte erzählt, alle sitzen dicht gedrängt um sie, so weit wie nur möglich von den Fenstern entfernt. Wir beschließen, die Kinder aufzuteilen, sie da zu lassen, wo sie gerade sind, damit sie möglichst wenig nach draußen müssen. Ich nehme Verbandszeug, ein trockenes Hemd und Hose, stecke alles in eine Plastiktüte und stürze mich wieder in diesen Kampf gegen die Elemente.
 

Es hört nicht auf. Längst ist die künstliche Nacht der tatsächlichen gewichen. Zwar hat das Gewitter nachgelassen, Blitze und Donner krachen nun unregelmäßig und erschrecken umso mehr. Kerzen kann man nicht anzünden, so sehr findet der Wind seinen Weg auch ins Innere des Hauses, nebelt uns ein mit Nässe, alles ist feucht und klamm. Zudem haben wir keine Kerzen mehr in den Kinderhäusern, seit Doni sich selbst und das Sunshine Haus beinahe abgefackelt hätte, weil sie bei einer brennenden Kerze eingeschlafen war, die dann das Moskitonetzt in Brand gesteckt hatte. Eine hässliche Narbe am Arm der 14jährigen erinnert uns alle daran, wie schnell Sorglosigkeit zu einer Katastrophe führen kann.

Senuki ist verarztet und schläft, das zerbrochene Fenster habe ich mit der Unterrichtstafel, wie wir eine in jedem der 9 Kinderhäuser haben, notdürftig verbarrikadiert. Ich habe Kinder aus drei weiteren Häusern hier zusammengeholt, auch sie haben trockene Kleidung in Plastiktüten mitgebracht, sind aber sehr schnell wieder feucht. Wir stellen eine der aufladbaren Taschenlampen in unsere Mitte, die Kleinen haben große Angst in der Dunkelheit, zumal da draußen ja ein Naturspektakel stattfindet, das uns zeigt, wie klein und hilflos wir sind. An vielen Stellen regnet es herein, seltsam bei einem Dach aus Blech.
Noch funktioniert das Mobiltelefon, gibt es ein Signal. Ich rufe Anka an, muss ins Mikrophon schreien, will wissen, ob alles in Ordnung ist. Wir beschließen, dass wir kein weiteres Risiko eingehen, dass wir bleiben wo wir sind und hoffen, dass dieses Unwetter, von dem wir ahnen, dass es mehr ist als ein normales Unwetter, sich bald ausgetobt hat. Sie hat alle Kinder aus den anderen Häusern um sich im Mainhaus versammelt, das Abendessen wurde nicht fertig, auch die jungen Frauen aus der Küche sind geflohen. Anspannung und Angst haben ganz offensichtlich den Hunger überdeckt, niemand will, dass ich zur Küche gehe und etwas Essbares hole. Anka geht es im Mainhaus genauso. Das Licht der Taschenlampe wird schwächer, gottlob auch der Sturm, nicht aber der Regen. Wir hören, wie das Rauschen der Abwässer aus den uns umgebenden Bergen zu einem Brüllen wird, es scheint von allen Seiten zu kommen.

Als ich todmüde die Augen schließe, sehe ich das Dorf Meeriyabeddha vor mir, vielmehr die Schlammmassen, die vor etwa zehn Jahren dieses Nachbardorf unter sich begraben haben, damals war auch ein ungewöhnlich heftiger Regen gefallen. So viele Menschenleben wurden damals einfach begraben, unauffindbar.

Ich versuche mich zu beruhigen! Das Kinderdorf ist durch tiefe und gut befestigte Abwassergräben geschützt, die ich nach der Katastrophe noch einmal habe ausbauen lassen. Sie halten die Wassermassen, die von oben herandonnern, von den Kinderhäusern weg, verteilen sie im anschließenden Bergwald. Wenn freilich ein Teil des Berges ins Rutschen kommt, helfen die auch nicht. All mein Mahnen, meine Apelle gegen das Abholzen des Bergwaldes, sie haben wenig bewirkt. Bekommen wir nun die Quittung? Die Kinder wollen eine Geschichte, obwohl sie schwerlich etwas verstehen, es beruhigt sie, langsam schlafen sie ein, alle in einem großen Kreis dessen Mitte ich bin.
Der Regen lässt in dieser Nacht immer nur kurz nach, als wolle er Kräfte sammeln, wenigstens weicht die Dunkelheit einem tristen Morgen. Ich habe zweimal Bäume stürzen gehört, ein dumpfer, mächtiger Schlag, der den Boden hat erzittern lassen. Ich nehme mir fest vor, wenigstens die Bäume fällen zu lassen, die zu nahe an den Kinderhäusern stehen, aber ich hasse es, Bäume abzuschneiden, es tut mir physisch weh. Aber habe ich eine Wahl? Ich bin verantwortlich für all diese jungen Leben.
 

Durch den Regenvorhang blicken wir in eine aufgewühlte Natur, Bäume haben sich ineinander verkeilt, einige haben im Fallen kleinere zersplittert.

Wir beschließen, den Regen ignorierend, mit einer Abordnung in die Küche vorzudringen. Die Kleinen wollen allerdings die Betreuerinnen und auch mich nicht gehen lassen, klammern sich heulend an uns. Da taucht Anka mit den größeren Kindern auf, patschnass aber die schweren Schüsseln mit Frühstück schleppend.
Dikshi winkt mich zu sich. Sie ist mit ihren gerade mal 24 Jahren unsere große Stütze. Verdutzt sehe ich, dass sie weint. „Lokuthaththa, in meinem Heimatdorf ist es ganz schlimm. Eine Familie, die schwangere Mutter und zwei Kinder sind mit dem Haus vom Schlamm gefressen worden. Vorher hat mich meine Mutter angerufen und dann...“ Die junge Frau schluchzt. „… dann war die Leitung tot!“ Ich suche mein Mobiltelefon, auch hier kein Signal mehr, wir haben die Verbindung zur Außenwelt verloren, sind wieder einmal ganz auf uns alleine gestellt. „Mach dir keine Sorgen“, versuche ich Dikshi zu trösten, „die Leitungen sind jetzt überall unterbrochen. War eh ein Wunder, dass sie so lange ohne Strom funktioniert haben. Ich war doch mit dir bei deiner Familie. Sie wohnen fast ganz oben auf dem Berg, da passiert nichts. Sicher war das Haus deiner Bekannten weiter unten“. Dikshi nickt. „Siehst du – und jetzt musst du stark sein, weil sonst die Kleinen noch mehr Angst bekommen!“

Einen Tag später, am letzten Tag im November, einem Sonntag, ist alles vorbei. Es ist ruhig, viele Straßen in den Bergen sind noch blockiert, die Wassermassen haben die Flüsse über ihre Ufer treten lassen, es kommt zu Überschwemmungen, wie sie das Land lange nicht mehr erlebt hat. Hier oben in den Bergen freilich ist es friedlich, die Sonne scheint als sei nichts gewesen.
Wir versammeln uns, wie jeden Sonntag, in unserer kleinen Urwaldkapelle. Heute darf Vidushi die erste Kerze am Adventskranz, den Anka noch in der Nacht gebastelt hat, anzünden.

Ein Licht kann Mut machen, Hoffnung schenken, wie vor zwei Nächten der Schein der Taschenlampe. In drei Wochen und drei Tagen werden wir gemeinsam Weihnachten feiern. Wir sind froh und dankbar, dass wir verschont geblieben sind und dann zünden wir noch viele Kerzen in der Kapelle an und beten für die Menschen, die dieses Weihnachten 2025 nicht mehr erleben.

Der Zyklon DITWAH schlägt eine Schneise der Verwüstung durch die Berge Sri Lankas, die Regenmassen führen zu schlimmen Überschwemmungen. Mehr als 350 Menschen verlieren ihr Leben, fast 40.000 ihr Zuhause.

Dikshis Familie ist nichts passiert. Auch im Kinderdorf kam kein Kind, keine Betreuerin zu Schaden, wenngleich es materielle Schäden für Little Smile gab.
Wieder erreichen uns viele traurige Geschichten, wir trösten und werden helfen, dankbar, dass die große Little Smile Familie verschont geblieben ist.