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Da war doch was?

Gedanken am Morgen des 26. Dezembers 2010
Es ist ein Morgen wie so viele zuvor. Mit der Morgendämmerung kamen die vielfältigen Gesänge der tropischen Vögel, ein überdimensionaler, bunter Specht hat getrommelt, die Streifenhörnchen gefiept, die erste Affenhorde ist lärmend und die letzten Mangofrüchte plündernd über die Dächer im Kinderdorf gezogen. Die Morgensonne hat es schwer, sich einen Weg durch den Dampf zu bahnen, der von den uns umgebenden Wäldern aufsteigt. Wir hatten ein regenreiches Weihnachtsfest im Jahr 2010.
Es ist kurz vor 7 Uhr am Morgen. Noch schlafen die Kinder, nur aus der Küche dringt wohl vertrautes Klappern und Plappern. Es gibt nur wenige Feiertage im Jahr, an denen unsere Glocke so lange schweigt, die Kinder länger schlafen können. Heute ist so ein Tag. In einer halben Stunde wird ein Mädchen aus dem Lucky-Haus den Tag einbimmeln, wird dieser 2. Weihnachtstag, ein Sonntag, beginnen.
Wird sich hier Irgendjemand ohne meine Hilfe erinnern, was diesen Tag so besonders, so anders macht? Werden sich die Menschen hier überhaupt erinnern in dieser Geschäftigkeit eines künstlich erzeugten wirtschaftlichen Aufschwungs, wo die Realität mit den geweckten Begehrlichkeiten nur selten Schritt halten kann?
Es ist ja wirklich schon lange her, sehr lange, denn 6 Jahre sind nun mal viel Zeit, ganz besonders in einem Land, indem sich die meisten Menschen ungern erinnern und kaum planen. In den Abendnachrichten wird man vermutlich heute die Katastrophenbilder zeigen, Momente, als eine bisher nie da gewesene Welle auftauchte.
Eine dieser Szenen, die man uns in den ersten Wochen nach der Katastrophe immer und immer wieder zeigte, hat sich mir ins Gedächtnis eingebrannt: Touristen in einer Hotelanlage am Strand. Die Ersten liegen bereits am Pool, Andere frühstücken auf sonnendurchfluteten Terrassen mit Meeresblick. Ja das Meer ist an diesem Morgen seltsam, zieht sich zunächst weit zurück, eine Superebbe jenseits der Zeit.
Die Einheimischen wundern sich, die Gäste nehmen es kaum zur Kenntnis. Das Wasser flutet langsam zurück, alles scheint wieder normal. Ein filmender Tourist entdeckt eine große Welle weit draußen die schneller näher kommt. Zunächst läuft er sogar auf den Strand zu um das Spektakel besser filmen zu können, einige Spaziergänger blicken auf, eine Frau will gerade ihr Frühstücksei „köpfen“, steht auf, den kleinen Löffel in der Hand. Das Ei wird nicht, seiner Bestimmung gemäß, verzehrt werden, nichts wird an diesem Morgen so sein wie gewohnt, nichts wird nach diesen Minuten des 26. Dezembers 2004 in Sri Lanka so sein wie vorher. Eine den Menschen unbekannte Naturkatastrophe wird diese Insel und einige Nachbarländer heimsuchen, eine fremdes Wort wird zu einem Synonym werden für unglaubliche Naturgewalt und Zerstörung aber auch für eine Welle der weltweiten Hilfsbereitschaft, von großen Anstrengungen aber auch Missverständnissen und Missbrauch. Einfach alles am TSUNAMI war gewaltig.

Im Kinderdorf in den Bergen Sri Lankas wissen wir nichts von all dem, was sich an der Küste an diesem Morgen für Dramen abspielen. Erst allmählich und auf Umwegen erreichen uns Geschichten, die uns unglaubhaft erscheinen, Geschichten eben.
Warum sterben die Einen und Andere überleben? Suresh, unser Mitarbeiter von der Südküste, war über Weihnachten da, befindet sich mit zwei jungen Deutschen auf dem Rückweg nach Galle. Eine Reifenpanne hält sie in der Steppe auf, der Ersatzreifen ist nicht, wo er sein sollte sonder liegt im Kinderdorf in einem Winkel der Garage. Vermutlich rettet diese Schlamperei Suresh, Dominik und Markus das Leben. Als sie die Küste bei Hambantota erreichen herrscht totales Chaos. Ein Großteil der Stadt, die Straße, Häuser, Fahrzeuge, Menschen, einfach weggerissen, das Meer liegt da wie ein schimmerndes Leichentuch.
Drei Tage später schlägt sich Suresh wieder durch, kehrt aus in keiner Karte verzeichneten Pfaden zurück ins Kinderdorf in den Bergen und berichtet von Leichenbergen in seiner Stadt Galle, die in Trümmern liegt. An der Ostküste soll es noch schlimmer sein, aber da herrscht Krieg und darum weiß man so gut wie nichts von dort. Die Telefonleitungen sind zerstört, erst zwei Jahre später wird das mobile Telefon in Sri Lanka seinen Siegeszug antreten. Ich selbst war Weihnachten in Deutschland, sehe die Bilder im Fernsehen und weiß, wir müssen versuchen nach Kalmunai an die Ostküste zu gelangen. Little Smile kümmerte sich dort seit zwei Jahren um Kriegswaisen, das Heim liegt nahe an der Küste.

Im Kinderdorf in den Bergen Sri Lankas wird geteilt, Kuchen von Weihnachten, unsere Reisvorräte, Linsen, Trinkwasser, Decken… Was immer wir entbehren können wird auf unseren alten Lastwagen verladen und dann beginnt die erste Reise von Vielen in den Osten.
Am 29. 12. 2004 war das eine Reise ins Ungewisse.
Mit dabei mein Sohn Manuel, der vier Wochen zuvor, am 2. Dezember seinen 18. Geburtstag im Kinderdorf gefeiert hatte.
Anfang Januar fliege ich zurück nach Sri Lanka. Schon der Flughafen gleicht einem Tollhaus. Überall strömen Helfer zusammen, drei der vier Schalter sind für sie reserviert, Hostessen mit Schildern auf denen man so gut wie alle Namen der großen Hilfsorganisationen findet, warten mit einem Lächeln. Sonderbusse bringen die sehr wichtig und sehr ernst dreinschauenden offiziellen Helfer in Hotels der Großstadt. Auf mich wartet nur Anton Weresingha, mein Bürovorsteher, der mich zum Kinderdorf fahren wird. Schon am darauf folgenden Tag, dem 6. Januar 2005 werde ich selbst den Lastwagen steuern, werde ich mit unserem dritten Transport unterwegs sein nach Kalmunai.

Die Hoffnung ist zäh, nistet sich irgendwo ein und lässt sich kaum vertreiben, die Hoffnung lässt Mütter auch 2 Wochen nach der Jahrtausendwelle noch nach ihren Kindern und Kinder nach ihren Eltern suchen. Das Meer gibt jeden Tag immer noch die Körper von Menschen und Tieren frei, bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert, längst in einem Zustand der Verwesung, den Anblick und Geruch unerträglich und unvergesslich machen. Die Überlebenden sind fassungslos, wandern in endlos scheinenden Ruinenfeldern, reihen sich in Schlangen ein, an deren vorderem Ende es irgendwas gibt, was zum Essen meist. Noch sind die großen Hilfsorganisationen nicht eingetroffen, noch überwiegt die Betroffenheit vor der Gier, ja und noch gibt es Dankbarkeit dafür, dass da Menschen Menschlichkeit zeigen, anpacken oder doch wenigstens tröstend zuhören. Schulen, Tempel, Krankenhäuser, alles was an der Küste stand, liegt in Trümmern, von unserem Kinderhaus sind nur die Grundmauern übrig geblieben. Auch wir hoffen und suchen, aber das Meer gibt nur noch die zerschmetterten Körper von zwei Mädchen frei. Fünft und sieben Jahr jung nur, mussten sie sterben, wo wie 9 andere Kinder und zwei Betreuerinnen aus dem Heim, indem sie Zuflucht vor dem Bürgerkrieg gefunden und in Geborgenheit aufwachsen sollten. Gottes Wille ist unergründlich, aber hat das wirklich irgendwas mit Gottes Willen zu tun?
Es ist keine Zeit der Fragen und des Zweifelns, es ist eine Zeit des Handelns. Wir gehen an unsere Grenzen und viel zu oft darüber hinaus. Irgendwann streikt der Motor das alten Lastwagen, wir besorgen einen Neuen und machen weiter. Wir bringen als Erste dringend benötigte Medikamente in das Krisengebiet, Laken zuvor, um die zahllosen Menschen zu bestatten, Trinkwasser, Essen und ein gutes Wort, ein Lächeln, kurz Hoffnung.

Und dann erreicht die zweite Welle auch die Ostküste, die der Hilfsgelder, verteilt von zahllosen Organisationen, die Meisten gegründet nur für diesen Zweck. Niemand kann mehr überschauen, was wo durch wen und wie passiert, ein unguter Wettbewerb beginnt. Die Spender wollen Erfolgsmeldungen, Hilfe als wohl inszeniertes Medienspektakel. Jeder weiß alles besser, besonders die, die vorher nie in diesem Land waren, Eigeninitiative ist nicht notwendig, ja nicht mal erwünscht, Opfer werden zu Almosenempfängern, Abhängigkeiten entstehen, Ungerechtigkeiten und Neid.
Während an der Küste Häuser gebaut werden, die den Vorstellungen des jeweiligen Geberlandes entsprechen, leiden die Armen im Rest des Landes unter ständig steigenden Preisen, hervorgerufen durch die Milliarden an Hilfsgeldern.
Das Jahr nach der Katastrophe ist gekennzeichnet von oft gut gemeinter aber kaum koordinierter und nicht selten auch fehlgeleiteter Hilfe. Mehr und mehr geraten die Hilfsorganisationen im Land unter Kritik, nicht selten um von der Unfähigkeit, Schlamperei und Veruntreuung durch Behörden abzulenken. Mehr und mehr der Hoffnungen auf einen Neuanfang ertrinken in Gier, auch die Chance aus dem gemeinsamen Leid heraus zu einem friedlichen Ende des Bürgerkrieges im Norden und Osten Sri Lankas zu kommen. Im Gegenteil: Nach nur zwei Jahren wird der Naturkatastrophe eine menschliche folgen, wird der Waffenstillstand in einen grausamen Krieg übergehen an dessen Ende das Land zwar endlich Frieden bekommen wird aber einen mit Waffengewalt erzwungenen mit viel Blut erkauften.
Wie anders sahen da doch unsere Hoffnungen in den ersten Monaten des Jahres 2005 aus, als Singhalesen Tamilen und Tamilen Singhalesen halfen, als die Armee auch in Norden und Osten Lebensmittel verteilte und man sich die Hand reichte.

Nichts war und ist wie vorher. 6 Jahre, ohne Pause, habe ich geschuftet, habe mir viele Feinde gemacht, weil ich nicht die geringste Verschwendung, keinerlei Betrug zulassen wollte. Wir haben vielen Betroffenen eine neue Heimat gegeben, haben ein großes Krankenhaus gebaut, Schulen, Kindergärten und immer und immer wieder auch kleine Häuser für die Überlebenden. Im Kinderdorf ist die Internationale Schule entstanden, Witwen mit Kindern haben ein Zuhause und damit eine neue Chance bekommen. Am Friedenszentrum an der Südküste und an einer weiteren Internationalen Schule an der Ostküste bauen wir noch, ohne Betrug und Verschwendung von Außen.
Mir war es immer wichtig, aus dieser Chance etwas zu machen das bleibt und auf Dauer wirken kann. Doch die Bedingungen für die soziale Arbeit hier wurden immer schwieriger. Längst wird auch die Little Smile Association vom Verteidigungsministerium überprüft, ausländische Helfer sind bestenfalls noch geduldet.
Wie oft wurden wir angefeindet, angezeigt, anonym versteht sich, ja sogar bedroht und angegriffen? Ich bin den Weg trotzdem oder gerade deshalb unbeirrt weitergegangen, musste mehr und mehr von meinem Leben in Deutschland aufgeben, bis es dann 2008 auf einen wöchentlichen Besuch pro Jahr zusammenschrumpfte. Neid und Gier brachen mit im Jahr 2010 vor Gericht, ja sogar ins Gefängnis.
Was würde ich Anders machen? Würde ich noch einmal JA sagen zu der Herausforderung, ein Ja ohne wenn und aber? Hat mir nicht gerade die dritte Welle die mich erreichte, gezeigt, dass es richtig war, was ich, was Little Smile getan haben. Ich meine die Welle der Unterstützung nach meiner Verhaftung, die Welle der Solidarität und des Vertrauens durch unsere Freunde und Unterstützer in Deutschland. Viele in der alten Heimat haben es ernst gemeint mit ihrem Angebot der nachhaltigen Hilfe und wir haben ernst gemacht, hier vor Ort. Sri Lanka, davon bin ich überzeugt, wäre ärmer ohne dieses ganz besondere Engagement, ohne dieses „Little Smile“.

Wohin der Weg mich, wohin der Weg Little Smile führen wird?
Ich habe hier gelernt, eine solche Frage gar nicht einmal zu denken. Wer im Heute, im Hier und Jetzt, das Richtige tut, der muss sich nicht mit Zukunftsängsten plagen. Und was ist das Richtige?

Die Botschaft von Weihnachten zeigt uns das ganz klar, die Botschaft, die da lautet: Gott ist Liebe und wurde aus Liebe uns gleich als Mensch unter Menschen.



Wie jeden Sonntag war ich mit allen Kindern und den Betreuerinnen in unserer kleinen Kapelle. Vor der Andacht sind wir alle zum neuen Schulgebäude gegangen, auch eine „Folge des Tsunamis“. Ich habe den Kindern die Bilder gezeigt, die Gleichaltrige aus dem Osten gemalt haben, die diese Katastrophe erlebt und überlebt haben. Aus dem Nachbardorf brüllt ein Radio herüber, stampfen die Bässe irgendeines einheimischen Diskosongs. Die alte Standuhr in der Aula der Schule schlägt 9 Uhr am Morgen.
Vor genau 6 Jahren geschah es!