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Tsunami Alarm und Gedanken zum buddhistischen Jahr 2556

Heute, am 11. April 2012 herrschte in den Dörfern und besonders den Städten eine so hektische Betriebsamkeit, wie man sie in Deutschland nur von den verkaufslangen Samstagen vor Weihnachten kennt. Morgen beginnen die Feiern zum singhalesischen und tamilischen Neujahrsfest. Kann es sein, dass das dreistöckige Einkaufszentrum in der Stadt Galle unter dem Ansturm zu schwanken beginnt, oder habe ich mir dieses Beben nur in der Hektik eingebildet? Immerhin bin ich seit 3 Uhr am Morgen unterwegs, fast fünf Stunden hergefahren vom Kinderdorf, habe bereits die Bauarbeiten am Kulturzentrum von Little Smile, das im Juni eröffnet werden soll, überprüft und bin jetzt auf dem Weg zur Schule Sahana Nivasa im Zentrum auf der Suche nach etwas Essbaren in diesem Gebäude gelandet. Kurze Zeit später merke ich, dass sich die Menschen seltsam verhalten, sie beginnen zum Ausgang zu drängen. Ich werde einfach mit geschoben, nach draußen gespült, wo ein heilloses Durcheinander herrscht. Und dann ist dieses Wort da, überall, 1000fach in Mobiltelefone geschrien: „TSUNAMI!“ Irgendwo heult eine Sirene. Nur um die Ecke, verdeckt durch den neuen, mit Tsunami-Hilfsgeldern finanzierten Busbahnhof ist das Meer, das am 26. Dezember 2004 genau hier in Galle so viele Menschen in den Tod gerissen hat.
Eine Stunde später habe ich einen der Hügel erreicht, weniger aus freiem Willen, vielmehr eingekeilt in eine Masse aus Menschen, die von Angst getrieben einfach nach oben wollte, da wo keine Flutwelle mehr hinkommt. Und dann auf das Meer starren bis die Augen tränen. Längst ist das Handynetz zusammengebrochen, Gerüchte, als Informationen verkleidet, machen die Runde. 6 Meter, hört man, soll die Welle hoch sein, so Mancher macht sich mit der Kamerafunktion seines Telefons vertraut. Touristen sieht man, die sich mit Lebensmittel versorgt haben und schimpfen, dass sie ihren Internet Blog nicht erreichen können, das Telefon- und Handynetz ist längst zusammengebrochen.
Ich bemerkte das nur wie durch einen Schleier, meine Gedanken sind weit weg, bei der Tsunamikatastrophe, die vor mehr als sieben Jahren so viele Menschenleben ausgelöscht und meines völlig verändert hat. Wie viel konnte ich seitdem hier in Sri Lanka bewegen, gerade auch durch die Hilfe aus meiner alten Heimat.
Damals haben wir besonders auf der anderen Seite der Insel, im Osten, wo auch noch ein schrecklicher Bürgerkrieg herrschte, geholfen. Auch in Kalmunai und Batticaloa sind die Menschen bestimmt ins Landesinnere gelaufen. Weglaufen kann man vielleicht noch vor so einer Welle, nicht aber vor der Not, der Ungerechtigkeit und Chancenlosigkeit vieler Kinder, besonders im Osten.
Und weglaufen kann zumindest ich nicht vor der Verantwortung, weil ich vor vielen, vielen Jahren JA gesagt habe zu Kindern in Not in Sri Lanka. Und während um mich herum die Angst in gespannte Erwartung, ja sogar so etwas wie Sensationsgier umschlägt und später, zumindest bei den meisten Touristen, sogar in Enttäuschung, als Entwarnung gegeben wird, gehen meine Gedanken auf eine Reise, eine Reise, die mich auf die andere Seite der Insel führt, eine Reise aber auch zurück in der Zeit, fast genau um fünf Jahre.


Montag, 9. Juli 2007, 6 Uhr am Morgen im Kinderdorf Little Smile in Koslanda


Seit wenigen Stunden bin ich zurück aus einer Realität, die so absurd scheint, wenn man sich nicht in ihr befindet, dass der Verstand, kaum hat man diese „Welt“ verlassen, sich weigert diese Wirklichkeit anzuerkennen. Heute Nacht an der Grenze, die das „normale“ Sri Lanka von diesem anderen Sri Lanka trennt, hatte ich genügend Zeit, nachzudenken. Man ließ mich nicht auf die andere Seite, irgendeine Verordnung, gerade einmal zwei Tage alt, forderte einen Passagierschein, ausgestellt von der Polizei des Ortes im „anderen Sri Lanka“, aus dem man kommt. Hätte ich denen gesagt, dass ich in Palugamam war, wer weiß, was dann passiert wäre? Offiziell komme ich aus Kalmunai und da wird gerade nicht gekämpft. Es ist schon gespenstisch, welche Angst Armee und Polizei vor den tamilischen Kämpfern zu haben scheint, in manchen Regionen wird man auf gerade einmal zehn Kilometern drei Mal angehalten und kontrolliert.
Manuel Kreitmeir, der Sohn des Leiters und Gründers von Little Smile, Michael Kreitmeir, hat immer wieder seinen Vater besucht. Aber nicht um Urlaub zu machen, sondern um mit ihm gemeinsam zu erleben, dass fast ALLES möglich ist, wenn man es wirklich will, selbst Hilfe für Kinder inmitten eines Bürgerkrieges.
Sonntag, 8. Juli am frühen Morgen um 3 Uhr an einem Polizeikontrollpunkt irgendwo zwischen Ampare und Simbulanduwa


An dieser vierfachen Straßensperre mit Sandsäcken, Bunkern, hastig errichteten Baracken, zwei kleinen Shops und etwa 50 Meter im Hinterland einem großen Haus, in das die Unglücklichen gebracht wurden, die man ohne Ausweis oder mit einem Papier, an dessen Echtheit Zweifel bestehen, gebracht werden, sitze ich also in dieser heißen Tropennacht, sehe, wie diese Menschen aus Bussen und Lastwagen geholt werden und in langen Schlangen vor dem Kontrollhäuschen warten. Von der singhalesischen Seite kann man dagegen nahezu ohne Kontrolle in den überwiegend tamilischen Teil einreisen. Ich spüre es physisch, dieses Gemisch aus Macht, Willkür, Angst und stummer Resignation, das diesen Ort beherrscht, der so weit weg liegt von dem eigentlichen Krisengebiet, aus dem ich komme, aber noch viel weiter weg von jeder Normalität.
Ich denke an die Kinder von Palugamam, an ihr Betteln sie doch nach Little Smile mitzunehmen. Ich erinnere mich in dieser Nacht aber noch viel mehr an ihre unglaubliche Stärke und stoische Gelassenheit, mit der sie in dieser aus den Fugen geratenen Welt leben und überleben.
Man lässt mich warten, ich merke, dass es diese Allmächtigen hier mächtig ärgert, dass da Einer ist ohne Angst, Jemand, der sich nicht einfach zurückschicken lässt. Natürlich funktionieren hier keine Handys, es gibt kein Telefon. Also bleibe ich einfach da, gelassen und ruhig, in vier Stunden wird es hell und dann: „Schau ma mal!“ Auf jeden Fall habe ich jetzt Zeit, um über die Ereignisse der vergangenen Tage etwas nachzudenken, also nehme ich diese Zwangspause einfach als Geschenk und Chance! Ich nütze die Zeit, um meine Gefühle in Buchstaben, Worte zu fassen, aufzuschreiben, festzuhalten.


Freitag, 8. Juli in der Mittagshitze in Palugamam im Osten Sri Lankas


All die Mühen und Strapazen der Anreise, der Moment, in dem ich unser Kinderheim in Palugamam betrat, der Moment, als die Kinder mich zum ersten mal sahen, dieser Moment der Freude wiegt all das mit Leichtigkeit auf. Dabei schien es, als hätte ich auch diesmal keine Chance bis zu dem Kinderheim vorzudringen. Für Nichtregierungsorganisationen und für Ausländer war die Region von Palugamam wieder einmal zum verbotenen Gebiet erklärt worden. Nur weil einige der Special-Task-Force-Soldaten mich von früheren Besuchen kannten, weil ich nicht mit Fahnen und Aufklebern auf vielen Millionen Rupien teueren Jeeps, sondern ganz bescheiden in einem alten Threeweeler daherkam, sammelte ich wichtige Pluspunkte. Und so erhielt ich schließlich ein gönnerhaftes Kopfnicken. „Im Moment sei es eh kein Problem dort“, ließ mich der Spezial-Soldat wissen, der hier offenbar das Sagen hatte. „All die bösen Jungs dort haben von uns einen feinen Haarschnitt verpasst bekommen und der Rest ist davongelaufen.“ So eingestimmt fahre ich nach gut drei verlorenen Stunden im Grenzbunker über den etwa ein Kilometer langen Damm durch brachliegende Reisfelder in eine Welt, in der es derzeit offenbar mehr Angehörige von Spezialeinheiten als Einwohner gibt. Viele der Menschen, die hier gelebt haben, scheinen sich noch nicht zurück zu trauen, viele werden wohl nie mehr kommen.
Endlich erreiche ich den Komplex mit den vier Kinderhäusern und der kleinen Schule. Es ist gespenstisch ruhig und ich habe ein wenig Angst vor dem, was das bedeuten könnte. Doch dann entdeckt mich eine alte tamilische Betreuerin, die sich irgendwo versteckt hat. Wild mit den Armen in der Luft herumfuchtelnd kommt sie auf mich zu, es sprudelt nur so aus ihr heraus, meine tamilischen Sprachkenntnisse können da nicht mithalten. Endlich geht ihr ein wenig die Luft und wohl auch die Kraft aus, sie beginnt zu schluchzen und heult bald so ungestüm, laut und herzzerreißend, dass ich dieses zuckende Knochengerippe einfach in den Arm nehmen und festhalten muss. Noch bevor sich die alte Amma beruhigen kann, stürmen die ersten Kinder aufs Grundstück. Meine Ankunft hat sich wie ein Lauffeuer herumgesprochen.
Ist es nicht schön, dass die tamilischen Kinder in Palugamam Michael Kreitmeir ihren „Lokuthatha“ nennen, ihren großen Vater und das mit einem singhalesischen Wort. Und wenn er dann da ist, dass sind für einen Moment Angst und Schrecken vergessen.
Ich erfahre, dass die Mädchen in der verlassenen Schule Zuflucht gefunden haben, nachdem die Kinderhäuser teilweise verwüstet und angezündet worden waren. Jetzt aber, nachdem die Kämpfe vorbei scheinen, soll es irgendwann auch wieder Unterricht geben, wird das Schulgebäude bald wieder gebraucht.
Auf den ersten Blick scheinen die Schäden in unserem Heim gar nicht so schlimm, aber dann, als ich das erste Haus betrete, sehe ich die in Trümmer geschlagenen Möbel, die eingetretenen Türen, die herausgerissenen Stromleitungen. Die wenigen Habseeligkeiten der Kinder, Schulhefte, Bücher, Kleidungsstücke liegen auf dem Boden verstreut. Wie schwer war es, hier während des Krieges zu bauen. Beim Anblick der verkohlten Dachbalken, der russ-schwarzen Wände kommen mir Tränen der Enttäuschung, der Trauer aber auch der Wut. Wenn diese Kreaturen schon keine bessere Welt für sich wollen, warum lassen sie diesen Mädchen, denen Krieg und Tsunami alles genommen haben, nicht wenigstens ihr Zuhause? Die Antwort kann man sich nur selbst geben, indem man nicht auf diese Zerstörung schaut, sondern in die Augen der Kinder, die voller Hoffnung sind, jetzt wo ihr Lokuthatha wieder gekommen ist. Jetzt muss es einfach wieder gut werden, im August, so betteln sie, möchten sie wenigstens zu Besuch kommen nach Little Smile, so wie damals, kurz nach dem Tsunami.
Und noch eine große Bitte haben die Mädchen. So gerne würden sie im großen Hindutempel beten, Ganesh und Shiva werden helfen. Der Tempel liegt zwar nur knapp drei Kilometer entfernt, ist aber durch zwei Armeekontrollstationen abgesperrt. Niemals würden sich die Mädchen in die Nähe der Soldaten wagen. Sumadi rollt mit den Augen, formt mit den Fingern eine Pistole: „Bumm“. Dann legt sie die Hände gefaltet neben den Kopf: „Sleeping“. Dabei grinst die 15jährige, doch ihre Augen sind traurig.
Wir ziehen los durch die Hitze, vorbei an überwiegend verlassenen Häusern. Von oben betrachtet muss das aussehen wie die moderne Version des Rattenfängers von Hameln, ein großer Weißer gefolgt von 72 Mädchen. Ob sie singen dürfen, fragt mich Lakshmi, ich nicke und schon ziehen wir singend am ersten Wachposten vorbei. Verdutzt schaut der aus seinem Bunker, ich hebe winkend die Hand und er grüßt verlegen zurück. Von Ferne sehen wir die mächtigen Türme des Hindutempels, der nie fertig gestellt werden konnte, da hier seit mehr als 20 Jahren Bürgerkrieg herrscht.
Je lauter die Mädchen singen, umso weiter weg rücken Angst und Sorge. Ich sehe einige Soldaten am Kontrollpunkt vor uns aus ihrer Deckung treten, sie warten auf uns am Ende dieses Pfades durch vertrocknete Reisfelder. Auch in unserem Rücken stehen inzwischen Soldaten. Die Mädchen ziehen völlig unbeeindruckt hinter mir her, singen und die 9jährige Pushpa nützt jede Atempause der Sänger für ein deutlich vernehmbares „Bumm“. Wir haben die Soldaten erreicht, sie lächeln und treten zurück. Und wieder zeichnet sich in meinem Kopf ein Bild ab: Moses auf dem Zug durchs Meer. Wir erreichen das riesige Tempelgelände, die Kinder verteilen sich, offenbar hat jedes Mädchen ihren Lieblingsgott. Nur wenige Menschen sind jetzt um die heiße Mittagszeit hier, sie schauen auf, stumm und verwundert, eine alte Frau lächelt. Ich setze mich in den Schatten einer mit vielen Figuren verzierten Wand. Erst jetzt merke ich, wie müde ich bin, spüre Durst und Hitze. Es ist so unwirklich hier in einem halbfertigen Tempel zu sitzen in einer Art Niemandsland mit all diesen Kindern.

Auch wenn die Mädchenhäuser teilweise verwüstet wurden, die Arbeit von zwei Jahren hier war nicht vergeblich. Das Gefühl nicht vergessen, nicht alleine zu sein, hat den Kindern diese fast schon irrationale Zuversicht gegeben, mit der sie die dunklen Monate überstanden haben. Aber mit der gleichen Zuversicht werde ich nach den fünf noch verschollenen Mädchen suchen und ich werde drei von Ihnen finden und zurückbringen. Aber das wird Morgen sein, an einem Tag, der einfach Gutes bringen muss mit gleich dreimal der heiligen Sieben, dem 7.7.2007.
Vor gerade mal 12 Stunden in der Nacht um 3 Uhr bin ich in einer anderen Welt, im Kinderdorf Mahagedara in den Bergen bei Koslanda aufgebrochen. Zahllose Hindernisse habe ich seitdem überwunden, Mahnungen und Warnungen missachtend bin ich jetzt hier mit dieser Schar Kinder, die nichts haben als den Willen zu leben und den Glauben daran, dass es eines Tages auch für sie eine Zukunft geben wird in einer Welt ohne Krieg, Leid, Angst.
Sicherheit ist eine Illusion, wo könnte man das eher begreifen als hier, aber eines weiß ich ganz genau: Nie werde ich diese Kinder im Stich lassen! Wir werden die Häuser wieder aufbauen und mit ihnen die Hoffnung, ja den Glauben daran, dass eine bessere Welt möglich ist. Und genau das ist es, wofür es sich lohnt, auch nach schlimmen Enttäuschungen wieder aufzustehen und neu anzufangen.
Fast fünf Jahre sind seitdem vergangen und in dieser Zeit hat sich sehr viel in Sri Lanka verändert. Am 19. Mai 2009 wurde der seit 1983 wütende Bürgerkrieg schließlich nach dem endgültigen militärischen Sieg der sri-lankischen Armee und dem Tod Velupillai Prabhakarans, sowie der gesamten Führungselite der LTTE, von Präsident Mahinda Rajapaksa offiziell für beendet erklärt.
Michael Kreitmeir hat sein Leben völlig in den Dienst des Wiederaufbaus und der Versöhnung, in erster Linie dabei der Hilfe für Kinder in Not gestellt. Er hat seinen Beruf als Filmemacher und Regisseur aufgeben, ist jährlich nur für einen Kurzbesuch in Deutschland, ansonsten immer vor Ort, um die Arbeiten zu planen, zu organisieren und zu kontrollieren.
Bildung und Naturschutz wurden neben der Kindernothilfe zu den Hauptaufgaben von Little Smile. So konnte am 5. Oktober 2011 eine Internationale Schule an der Ostküste eröffnet werden.
Und auch in Palugamam ist viel passiert. Unter großen Schwierigkeiten wurden zwei der Häuser wieder aufgebaut und ein weiteres altes Haus erworben. Das „Himmelhaus“, wie es die Kinder wegen seiner blauen Farbe nennen, soll noch in diesem Jahr renoviert und ausgebaut werden, damit hier einmal bis zu 20 Mädchen mit drei Betreuerinnen leben, lernen und lachen dürfen.
Übrigens, heute am 11. April 2012 ist die große Welle ausgeblieben, am Abend des morgigen Tages werden wir, der Tradition gemäß, Milch aufkochen und das alte Jahr verabschieden. Dann beginnt 2556 nach buddhistischer Zeitrechnung und es wird wieder zahlreiche Herausforderungen und auch so manche Enttäuschung bereithalten. Das Begegnungs- und Friedenszentrum in Pilane, unsere Antwort auf Krieg und Gewalt, wird endlich eröffnet und dann zeigen müssen, dass dort mehr entstanden ist als außergewöhnliche Gebäude.
Ich werde auch im neuen Jahr versuchen, Menschen für die Sache von Little Smile zu begeistern, besondern Einheimische, die bereit und in der Lage sind Verantwortung zu übernehmen. Auf dass auch weiterhin Orte des Lächelns möglich sind in einem Land im Umbruch.
Und so wünsche ich Ihnen von Herzen viel Gutes im Neuen Jahr 2556

Ihr

Michael Kreitmeir