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Fassungslos

Es ist als hätte man den Halt unter den Füßen verloren, verwirrt, ohnmächtig. Es ist ein Wirklichkeit gewordener Alptraum, der auf einem lastet, der uns alle hier im Kinderdorf und im Bubenheim auf Hill Top erfasst hat. Es ist schwer sich zusammenzureißen, auf das Notwendige zu konzentrieren.
Es ist Viertel vor 8 an einem Donnerstagmorgen, alle Schulen im Umkreis sind geschlossen. Eine Kerze brennt vor dem Kreuz, eine Öllampe vor der Buddha Statue, Räucherstäbchen vor dem Elefantengott Ganesh. Alle Kinder sind da, müssen nicht wie sonst zur Ruhe gemahnt werden, schweigend stehen sie da. Nicht alle haben verstanden, warum es heute so anders ist als all die anderen Tage, sie sind zu klein, um zu begreifen, was genau vor 24 Stunden nicht einmal einen Kilometer entfernt geschehen ist. Aber kann ich es begreifen?
Wie kann der Großteil eines Dorfes in nur einer Minute für immer verschwinden, mit Häusern, Bäumen, Hunden und besonders mit allen Menschen, die gerade dort waren? Halt, die Bäume waren schon vorher verschwunden, abgehackt, alle, mit Ausnahme des heiligen Baumes am Hindutempel. Aber auch den gibt es nicht mehr, genauso wenig wie den Tempel, den ich nach der Renovierung mit eröffnet habe. Seine mächtigen Wurzeln ragen nun aus der braunen Suppe mehrere hundert Meter unterhalb der Stelle wo er viele Jahrhunderte stand.  Es schien, als würden sie den alten Sami, den Hindupriester, umarmen. Er gehört zu den sechs Menschen, deren Leichnam bisher geborgen werden konnte.
Die Kinder haben begonnen zu beten, ich habe es gar nicht gemerkt, meine Gedanken sind gefangen in dem kleinen Kindergarten, Gesichter von dreijährigen, vierjährigen Buben und Mädchen erscheinen und verschwinden, für immer, auch wenn nun auf Befehl des Präsidenten zahllose Soldaten mit schwerem Gerät nach den Überresten der Menschen suchen, für die zu Lebzeiten kaum jemand einen Finger gerührt hat.
Mehr als zehn Meter ist die Schlammlawine dick, schätzungsweise gut zwei Kilometer lang, eine Schneise des Auslöschens hat sie hinterlassen. Nur wenige Trümmer ragen aus dem rotbraunen Brei aus Steinen und Schlamm, der nun ist wo vorher Leben war. 25 kleine Wesen in ihren bunten Kindergartenuniformen, sie wollten an diesem 29. Oktober ihr Programm einstudieren für das Jahresfest, ein paar Tänze, zwei Lieder in englischer Sprache sogar. Vermutlich hatten sich die kleinen Tänzerinnen besonders herausgeputzt. Mein Gott, warum?
In der höher gelegenen Schule hatte man kurz vor Unterrichtsbeginn gerade Aufstellung genommen um die Hymne zu singen, als ein Knall zu hören war und dann ein Donnern wie von einem sehr, sehr großen Flugzeug. Vom Rand des Schulhofes kann man gut das Tal überblicken. Etwas Braunes, Riesiges schob sich auf ihre Dorf zu, gleichzeitig brachen die umliegenden Hänge auf, gewaltig, todbringend. Ohne recht zu begreifen, was da vor sich ging, begannen zuerst die Kleinen zu weinen, Tränen für all das verschwundene Leben da unten, wo gerade noch ihr Zuhause war.
Hubschrauber donnern über das Kinderdorf, reißen mich aus den Gedanken. Merke, dass die Kinder mich mit großen Augen anschauen, das Gebet ist längst beendet. Niemand läuft nach Draußen, um dem seltsamen Fluggerät zuzuwinken, das wir hier sehr, sehr selten zu Gesicht bekommen. Staatspräsident Mahinde, sein Sohn, der Minister für Katastrophen und auch sonst so Einige von ganz Oben schweben ein, Hunderte von Polizisten und noch mehr Soldaten, Koslanda, dieser kleine Ort irgendwo im nirgendwo der Berge Sri Lankas hat Schlagzeilen gemacht, ein Erdrutsch mit 300 Vermissten ist sogar weltweit eine Nachricht wert. Bilder eines braunen Etwas, die üblichen Hausruinen, Kinder mit großen Augen, Baby haltende Mütter, Schlamm und die Halle unserer Tamilenschule, die als Auffanglager dient für all die, die nun kein Zuhause mehr haben oder in ihr Haus nicht zurückkehren dürfen, weil man nicht weiß, ob das schon Alles war oder der aufgeweichte Untergrund nochmal in Bewegung gerät, all das wird nun für einige Tage um die Erde gehen, Menschen überall erreichen. Einen Moment werden einige innehalten, vielleicht sogar trauern, dann werden neue Katastrophen kommen.

Es ist das erste Mal seit langem, dass ich keine Motorsäge höre, der Bergwald bekommt einen Tag Gnadenfrist, vielmehr das, was von ihm noch übrig ist. Viel ist es eh nicht und da, wo jetzt nichts mehr ist als Schlamm gab es kaum noch Bäume. Die Hänge oberhalb des Dorfes waren regelmäßig angezündet worden, frisches Gras ist besser für die Kühe aber die ständigen Zündlereien fördern eben auch Erosion und Zerstörung. Auch die Straße oben beim Bubenhaus, die in die Nachbarstadt Bandarawella führt, ist weggebrochen, nur einen Tag vor der großen Katastrophe. Überall rutscht die Erde, überall klaffen braune Wunden im geschundenen Berghang. Dass es so schlimm und vor allem so schnell kommt, dass es für so viele Menschen kein Entkommen mehr gab, so etwas ist selten und sorgt darum für Schlagzeilen.

Aber überall hier in den Bergen kann die Erde den ständigen Raubbau, das Abholzen, Anzünden, das planlose Schlagen von Straßen und Bauen von Häusern nicht mehr verkraften. Auch die Menschen im kleinen Dorf oberhalb von Koslanda waren gewarnt worden, sie wussten, dass es nicht sicher war wo sie lebten, aber wohin hätten sie gehen sollen? Fast alle Bergtamilen leben als Tagelöhner, kommen mehr schlecht als recht über die Runden.  Ein neues Haus bauen, egal wie einfach, ist da einfach nicht drin, vorausgesetzt man findet ein Stück Land, das sonst Niemand beansprucht. So ein Land aber gibt es, wenn überhaupt, nur weit weg von Straßen, wie also soll man dann seinen Lebensunterhalt verdienen, wie können die Kinder zur Schule gehen.
Also ist man geblieben in Up-Koslanda, wird schon nichts passieren. Vergessen der benachbarte Erdrutsch aus dem Jahr 1998, der mich einst zum ersten Mal in diese Gegend geführt hat. Die Zerstörung der Natur, starke Regenfälle und eine tagelang gebrochene Hauptwasserleitung, irgendwann war es einfach zu viel und dieses irgendwann war am gestrigen 29. Oktober genau um 7 Uhr und 45 Minuten am Morgen.
Es ist Abend, es nieselt und ist neblig. Die mir so gut bekannte Tamilenschule sieht gespenstig aus. Überall Polizei, Soldaten, Männer in weißen Hemden neben großen Geländefahrzeugen in schwarz.
Ich gehe in die Halle, überall Menschen mit den wenigen Habseligkeiten, die sie mitnehmen konnten. „Lokuthatha!“ Ein etwa neunjähriger Junge läuft auf mich zu, reicht mir eine Wasserflasche, nimmt sie dann nochmal und entfernt geschickt den Plastikverschluss. Er lächelt. Endlich hat er hier jemand gefunden, den er kennt. Er nimmt mich bei der Hand, führt mich zu einer Gruppe, die am Boden sitzt, Frauen aller Altersstufen, viele Kinder, auch Säuglinge.
Auch hier ein Lächeln, eine Mutter reicht mir ihren kleinen Jungen. Rajha, mein junger Begleiter wird ungeduldig, zieht an meiner Hand. Er hat den Direktor der Schule entdeckt, der von der Bühne auf das Treiben blickt, auch er scheint mit den Gedanken ganz wo anders zu sein. Rajha lässt mich an diesem Abend des 29. Oktobers in der Schulhalle erst los, als er zu müde ist um die Augen offen zu halten.
Es war ein ereignisreicher Tag von dem er unbedingt morgen seinen Eltern berichten will und seiner kleinen Schwester. Ich schaue auf den so lebensfrohen Jungen, der sich da einfach neben mir zusammengerollt hat. Der Direktor hat mich entdeckt, er kommt zu mir, flüstert. Niemand sei bisher von seiner Familie gefunden worden, aber es gäbe noch andere Lager, es könne sein, dass sie sich irgendwohin haben flüchten können. „Es gibt also noch Hoffnung?“ frage ich. „Es gibt immer Hoffnung“, ist die Antwort.