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Vom Schnupperkurs zur Herzensaufgabe

Annkathrin Blank und ihr langer Weg nach Little Smile
Gerade habe ich das neue Mädchen in die Kinderliste eingetragen: 103 Kinder wohnen seit eben in Little Smile Mahagedara. Lange wird es dabei nicht bleiben, denn fast jeden Tag stehen Eltern mit ihren Kindern vor der Tür und betteln uns ihre Schützlinge abgeben zu dürfen. Meine Aufmerksamkeit bleibt stehen, in der Kategorie „Aufnahmedatum“ unserer Statistik. Ganz schön viele sind im laufenden Jahr hinzugekommen, eigentlich fast mehr als wir leisten können, aber wer kann schon leicht „nein“ sagen, wenn da ein Leben voller Hoffnungen, Wünsche, Träume, Ängste und Sorgen vor einem steht und man genau weiß, wo dieses Leben hingeht, wenn man „nein“ sagt? Michael Kreitmeir sicherlich nicht, sonst wäre er nicht der Lokuthaththa von Little Smile. Irgendwie findet sich dann schon noch ein Platz in einem der Kinderhäuser, auch wenn er eigentlich gar nicht da ist, es muss einfach gehen.

Mein Blick wandert weiter nach oben in die Liste der freiwilligen Mitarbeiter von Little Smile:  Bei welcher Nummer würde mein Name stehen? Am 3. September 2006 kam ich zum ersten Mal nach Little Smile. Am 2. September 2013, nachdem ich sechs Mal meist für mehrere Monate praktisch all meine Semesterferien hier verbracht habe, nur wenige Wochen nach meinem bestandenen ersten Staatsexamen als Gymnasiallehrerin, kam ich zum siebten Mal nach Little Smile und zum ersten Mal ohne Rückflugticket. Also feiere ich mein zweijähriges zusammen mit meinem neunjährigen Jubiläum. Ganz schön verrückt wie so Vieles hier!
Nur mit einer Hand voll Kindern, zwei Betreuerinnen und natürlich Michael Kreitmeir teile ich die Erinnerungen an die Zeit meines ersten Aufenthaltes. Sri Lanka hat sich seitdem verändert, Little Smile hat sich verändert, sehr sogar, das Wesentliche freilich ist gleich geblieben: Das Kinderdorf Mahagedara gehört den Kindern, hier sind sie der König, die Nummer 1, der Grund für jede Mühe und Anstrengung.
Mit vielen Erwartungen, Vorstellungen und Ideen kam ich abenteuerlustig vor neun Jahren an. Meine Welt wurde hier nicht nur einmal auf den Kopf gestellt, sondern immer wieder. Niemals hätte ich mir träumen lassen, dass ich irgendwann hier leben werde. Das Studium nach dem freiwilligen halben Jahr war schon geplant, ich wollte auf keinen Fall hängen bleiben in Sri Lanka. Etwas erleben, lernen, weitergeben, aber danach unbedingt wieder ganz normal in Deutschland weitermachen, wie alle anderen, das war mein Wunsch. Ich habe mir also bewusst ein Projekt ausgesucht, das ohne Zweifel gut geführt ist und funktioniert, damit ich mich um die liebgewonnenen Menschen nicht sorgen muss, wenn ich nach meiner Zeit wieder „lebe wohl“ sage. Schon absurd, dass aus der Vielzahl der Freiwilligen letztendlich ich hier hängengeblieben bin.   

Der so besondere Ort im Bergurwald Sri Lankas ließ mich nicht mehr los, ich kam zurück, immer und immer wieder und jedes neue Erleben war intensiver als das vorherige. Mit jeder Freude, jeder Enttäuschung und jeder Überraschung, bin ich ein Stück tiefer in den Strudel von Little Smile gezogen worden, einen Strudel, den ich nicht erklären kann, den man nicht sehen, verstehen oder denken, sondern nur erleben und fühlen kann.

Ich hinterfrage längst nicht mehr, ob ich hier sein will oder nicht, ich weiß einfach, dass ich hierher gehöre, auch wenn es oft schwer ist, sehr schwer sogar, denn die üblichen romantischen Vorstellungen von kleinen, immer lieben Kindern, deren Augen dankbar leuchten, sind nur Momentaufnahmen der Realität . Warum sollte es auch so sein?
Kinder haben ein Recht auf ein sicheres Zuhause, auf Zuneigung, auf Orientierungshilfe, einfach auf eine glückliche Kindheit, während der sie auf der Suche nach ihrem Platz in dieser großen, verwirrenden Welt sind. Warum also sollten die Kinder von Little Smile dankbar dafür sein, dass sie gutes Essen, Kleidung und Schulsachen bekommen? Warum sollten sie immer danke sagen dafür, dass wir ihnen das geben, was für jedes  Kind selbstverständlich sein sollte?
Im Gegenteil: sie fordern einen oft heraus, sind frech, mürrisch, traurig oder wütend, und trotzdem oder genau deswegen haben sie ein Recht auf Fürsorge und Liebe.
Wenn man sich wirklich auf die Kinder und ihre Bedürfnisse einlässt, ist man mehr als gut beschäftigt, man hat keine Zeit darüber nachzudenken, was man selbst eigentlich gerade gerne hätte oder machen würde. Beruf und Privatleben sind hier nicht voneinander zu trennen. Wir leben unsere Arbeit, 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Wenn jemand etwas braucht, wird er immer eine offene Tür finden, egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit. Und wie in jedem Beruf, in jedem Leben gibt es Höhen und Tiefen. Es gibt sie schon, die guten Momente voller Freude und Zuversicht, in denen man die Früchte der eigenen Arbeit spüren kann. Oft treten sie aber in der direkten Wahrnehmung hinter die Enttäuschungen und Probleme des Tages zurück, denn der Erfolg ist schwer zu messen, wenn man sich das so langfristige Ziel setzt etwas Wertvolles in die Herzen von Kindern einzupflanzen, die mit denkbar schlechten Voraussetzungen ins Leben gestartet sind.

Was trägt mich also durch die Tiefen, wenn man den erhofften Erfolg nicht so leicht sehen oder messen kann und sich auch nicht einfach auf das arbeitsfreie Wochenende mit Freunden oder das Hobby in der Freizeit freuen kann?
Vor allem ist da die tiefe Überzeugung, dass es Sinn macht, was ich hier leiste und zu erreichen suche. Nicht immer geht alles genau so aus, wie ich es mir für die uns Anvertrauten wünsche, doch nie würde ich beginnen deshalb die Sinnhaftigkeit meines Versuchens in Frage zu stellen. Mein Einsatz hier ist geprägt von großer Liebe zu den Menschen und zur Idee der ganzheitlich gelebten Menschlichkeit, die mir von Michael Kreitmeir Tag für Tag vorgelebt wird und die ich nirgends so finden konnte wie in Little Smile Mahagedara.

Auch nach dieser langen Zeit hier, die nicht immer leicht war und ist durchströmt mich ein großes Gefühl der Dankbarkeit, weil es mich 2006 hierher verschlagen hat und weil mein Plan dieses Leben wieder loszulassen nicht funktioniert hat, so dass Little Smile heute mein Leben ist. Ich bin dankbar, denn ich habe das gefunden, nach dem so viele oft vergeblich suchen, nämlich eine Art zu leben und zu arbeiten, die mich begeistert, maximal fordert und bis ins letzte Detail erfüllt.
Und schon jetzt bin ich neugierig, wann ich wohl das Kind mit der Nummer 104 in die Kinderliste eintragen werde. Was für ein Schicksal, was für ein Leben mit all seinen Facetten wird hinter dieser Nummer verborgen sein, welche Momente werden wir teilen, welche Kämpfe, etwa in der Pubertät, ausfechten und wie wird es uns gelingen dieses Kind auf seinem Weg in eine hoffentlich glückliche Zukunft zu begleiten?