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Gedanken zum Tod unseres „Wächteronkels“

Die Blumen am Eingang des Kinderdorfes leuchten im ersten Morgenlicht, erfrischt vom abendlichen Regen, dem ersten seit Monaten. Und doch: es ist eine andere Sonne, die heute aufgeht. Nichts ist so, wie es noch gestern war, nichts! Ich höre das wehe Klagen aus dem kleinen Van, der vor dem Tor steht. Herr Dissanayake, den alle nur als Watcheronkel kennen, er wird ihnen nicht öffnen, dabei ist es seine Familie, der Sohn, der Schwiegersohn, Tochter und Enkel, die da auf sein Blumenmeer schauen, dahinter seine Frau, die ihrem Schmerz Töne verleiht. Ich hole tief Luft, muss wieder einmal trösten, dabei schnürt es mir selbst den Hals zu.
Wir betreten sein Wächterhaus. Ordentlich hängen seine Ersatzuniformen da, seine Straßenkleidung, die dicke Jacke, sein Motorradhelm. Sein Sohn öffnet seine Tasche, ein Kamm und Bonbons, die er so gerne an die Kinder verteilte. In seinem Geldbeutel sind gerade mal 160 Rupees, ein Euro, dafür viele zerknitterte Familienfotos. Ich weiß so wenig von ihm, dabei war er eine gefühlte Ewigkeit hier, war Teil des Kinderdorfes, Teil auch der Idee von Little Smile.
Er war der Erste und der Letzte, den jeder sah, der ins Kinderdorf kam. Er öffnete das Tor in eine andere Welt und war Teil von ihr. Mit ihm begann etwas ganz anderes und endete wieder, wenn er dem, der ging, nachwinkte. Nichts an ihm war gespielt, eine menschliche Insel der Ehrlichkeit in einem Meer von Lug und Trug. Warum nur habe ich ihm so selten meine Anerkennung gezeigt? Warum hatte ich so selten ein freundliches Wort? Warum nur habe ich mich nicht um ihn gekümmert? Liegt es daran, dass man die, die einem keinen Ärger machen, keine Sorgen bereiten, leichter übersieht? Man ist ganz einfach froh, dass man so einen wie ihn hat und irgendwann glaubt man, dass es selbstverständlich ist, dass er da ist. Ist es nicht!
Man weiß so genau, dass man nur das Heute, das Hier und Jetzt leben kann, warum also wartet man damit, dem anderen eine Freude zu machen. Und dann ist es auf einmal zu spät, wieder einmal!
Ich war nie in seiner Kammer, nicht aus Desinteresse. Vielmehr war das hier sein Reich, besonders der Garten rund ums Tor, den er so liebte und der ihn liebte und daher sogar in der schlimmen Trockenheit der letzten Monate ihm und damit auch uns Blumen schenkte. Er muss sich gefreut haben, als es gestern am Nachmittag endlich etwas geregnet hat. Wir hatten kein Wasser zum gießen mehr, der „Watcheruncle“ hat mit seinen Blumen gelitten. Ich hoffe so sehr, dass er nicht gelitten hat, gestern gegen 4 Uhr am Nachmittag, als er völlig überraschend dem Tod begegnete. Er war hochgegangen zur Villa Maria, unserem Gästehaus direkt gegenüber dem Eingang. Die tägliche Kontrolle dort gehörte zu seinen Pflichten und die nahm er sehr ernst. Er war einer der ganz Wenigen hier, die man nicht ständig kontrollieren musste. Ich war froh darüber, lies ihn machen und wusste, dass wir uns auf ihn verlassen können. Zu seinem Aufgabenbereich gehörten auch die Wassertanks. Wie traurig meldete er in den vergangenen Wochen, wenn wieder mal kein Wasser kam, wenn er seine Tanks nicht mal annähernd voll bekam. Er nahm das fast schon persönlich. Mit Anka hatte er eine eigene Art von Sprache entwickelt, nie werde ich sein „3 Quater closed“ als Mengenbezeichnung für den Haupttank vergessen, unterstrichen von theatralischen Gesten, wenn der Wasservorrat gegen Null ging. Und nun endlich kam das Wasser auf das er, auf das wir so sehnsüchtig gewartet haben.
Hoffentlich hat er nicht gelitten! Kampflos hat er das Leben nicht hergegeben, so viel ist sicher. Er liegt vor der Villa auf dem Rücken, die Arme weit ausgebreitet. Die Uniform, selbst das Unterhemd hat er sich vom Leib gerissen wohl um mehr Luft zu bekommen. Als die Arbeiter Feierabend hatten und kein Torwächter da war, haben wir ihn gesucht, zu allererst in der Villa  Maria. Man hat mich gerufen, der „watcher“ sei hingefallen. Ich dache, ausgerutscht in ungewohnter Feuchtigkeit des Bodens. Ich gehe hoch und sehe sofort, dass uns der Onkel für immer verlassen hat. Trotzdem knie ich nieder, suche in verzweifelter Hoffnung den Puls, bete, dass sich die Pupillen im Schein er Handytaschenlampe wenigstens ein wenig verengen. Nichts! Der Zweifel zerbricht, der Himmel beginnt zu weinen, diesmal heftig. Ich hole ein Tischtuch, decke ihn zu. Der Arzt, wo bleibt er? Ich schicke nochmal nach ihm, vielleicht kann er ja doch noch Leben entdecken. Aber er kommt nicht, dabei hält er gerade bezahlte Sprechstunden nicht mal einen Kilometer entfernt. Irgendwann kommt die Polizei, steht rum unter dem Vordach. Nur ja nicht nass werden, im ersten Regen nach langer Trockenheit werden all die Krankheiten aufgesaugt, so glaubt man hier. Dem Wächteronkel ist das egal. Was waren seine letzten Gedanken? Man sollte nicht so alleine sterben müssen, wenn nur wenige Meter entfernt so viele Menschen leben, die einen gerne haben.
Mein Gott, wie sehr werden wir dich vermissen!!