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Der erste Schritt — vollbracht
Gebäude für „unerwünschte Babys und Kleinkinder“ eröffnet
28. Juni 2023, 5 Uhr am Morgen im Kinderdorf. Da stehen sie alle, im Dunkeln, weil wieder einmal der Strom abgeschaltet ist, würgen Tabletten runter gegen Fahrkrankheit, die doch nicht helfen werden und steigen in unseren Bus, wobei Anka jedem der Mädchen noch einen Plastikbeutel in die Hand drückt. Sicher ist sicher und wie sich schon nach wenigen Kilometern herausstellen wird, sehr sinnvoll. Es wird also gekotzt auf dem Weg die Berge hoch, 35 Kilometer nur und doch eine quälend lange Reise für viele der kleinen Tänzerinnen, die nur selten in ihrem Leben vor Little Smile Bus gefahren sind und deren Magen gegen diese unnatürliche Fortbewegung rebelliert.
Das Ziel ist die nächste größere Stadt Bandarawela und dort ein Ort für Babys und Kleinkinder, der heute eingeweiht werden soll. Fast ein Jahr hat Little Smile an diesem Gebäude gebaut, das hell und freundlich, versehen mit bis zu vier Meter hohen Gemälden Kleinkindern vorübergehende Heimat schenken soll.
Die etwa 30 Tänzerinnen aus Little Smile spülen sich den schlechten Geschmack von Erbrochenem aus dem Mund, um sich dann ins heutige Abenteuer zu stürzen. In drei nach Alter getrennten Gruppen werden sie zeigen, was sie von ihrer Akka (bedeutet große Schwester), wie sie die Betreuerin Grace nennen, die in Little Smile auch Tanz unterrichtet, gelernt haben. Vorher wollen sie aber noch einen Blick auf das Haus werfen, das ihr Lokuthaththa mit seinen Arbeitern gebaut hat.
Die riesigen und so unglaublich bunten Bilder erzählen viele Geschichten, mit Staunen wandern sie von Zimmer zu Zimmer, eine Reise durch ein überdimensionales Bilderbuch, sie tauchen ein in eine Welt, wie sie nur Kinderaugen sehen, bunt und schön, ein Regenbogen und spielende Kinder, oder in einem der Schlafräume kleine Forscher die den Sternenhimmel erkunden und im anderen Schlafraum sogar das All erobern.
Immer wieder verliert Anka einige ihrer Schützlinge, die sich einfach nicht losreißen können. Und dann in der Spielhalle ein Blick ins Paradies. Ein bunter Teppich, riesige Bälle oder ganz viele, ganz kleine, Zelte, eine Rutsche und viele Tiere, auf denen man reiten kann, keine echten natürlich, dafür aber umso bunter. Auch hier auf beiden Seiten Bilder, die den Weg freigeben in eine Welt, wie sie nur Kinder sehen, das Element Erde auf der einen und das Element Wasser auf der anderen Seite. Dazwischen das Spieleparadies. „Wer hat den all die Bilder ausgesucht“? will Dikhsi, eine der Betreuerinnen von Anka wissen. Die lächelt vielsagend: „Wer meinst du wohl?“ „Lokuthaththa“? fragt Dikshi nach. Anka lächelt immer noch. Keine Antwort ist auch eine Antwort.
„Warum ist Lokuthaththa“, gemeint ist Michael Kreitmeir, denn nicht mit uns gekommen?“ will eine der größeren Tänzerinnen wissen. „Der wäre gerne mit uns im Bus gefahren, aber heute da muss er für Little Smile in der ersten Reihe sitzen, weil wir ja dieses Babyhome gebaut haben“ erklärt Anka. „Also strengt euch an, vergesst die anderen und tanzt einfach nur für ihn!“ Die Mädchen nicken aufgeregt.
Und während immer mehr große und teure Autos scheinbar wichtige Personen bringen, verlässt Anka mit den Little Smile Betreuerinnen den Neubau, deutet auf einen überdachten Gang, der dieses Paradies für Kinder mit dem Ort verbindet, in dem sie bisher hausen. Noch bleibt ein wenig Zeit und niemand kümmert sich um die kleine Gruppe, die Tänzerinnen aus Little Smile stärken sich am mitgebrachten Frühstück, alle anderen drängen in Richtung Ehrengäste. Auch Michael Kreitmeir ist angekommen. Das freilich sehen die Betreuerinnen schon nicht mehr, sie folgen Anka in eine Welt, die sie aus dem Kinderdorf, in dem sie aufgewachsen sind und wo sie sich nun um die dort lebenden Kinder kümmern, nicht kennen. Und während alle Augen nur auf die Ehrengäste gerichtet sind und der Ministerpräsident, den man hier Gouverneur nennt, Michael Kreitmeir zu sich winkt, öffnet Anka die Tür zum alten Babyhome, einem umfunktionierten Bungalow, den fast auf den Tag genau vor 60 Jahren ein Auswanderer einem sozialen Zweck vermacht hat und in dem seit vielen Jahren die Säuglinge und Kleinkinder von Mädchen untergebracht werden, die selbst noch Kinder ungewollt schwanger geworden sind. Maximal 6 Monate bleiben die Neugeborenen bei ihren Kindermüttern, danach werden fast alle zur Adoption freigegeben. Ein Leben als Minderjährige mit Kind, alleinstehend und von der Gesellschaft verurteilt, ist in Sri Lanka auch im Jahr 2023 nur schwer vorstellbar. (Siehe auch: Worüber man nicht spricht – Schwangere Kinder, eines der großen Tabus)
Im ersten Raum steht ein kleines Gitterbett neben dem anderen, nur durch einen schmalen Gang getrennt. In vielen der recht kleinen Bettchen liegen gleich zwei Säuglinge. Beim Eintreten der hier wohl sehr seltenen Besucher verstummt auf einen Schlag das Schreien und Wimmern, stattdessen große, staunende Augen. Einige der Älteren, wohl so zwischen 8 und 12 Monate jung, ziehen sich an den Stäben hoch oder versuchen es zumindest, zwei strecken die Arme aus, bittend, wollen hochgenommen, gehalten werden. Zwar wurde wegen des bevorstehenden Festes, mehr wohl noch wegen des wichtigen Besuches, alles so gut es ging, saubergemacht, die Einsamkeit freilich und die Düsternis in diesen dunklen Räumen lässt sich nicht wegpolieren.
Im zweiten Raum liegen auch im Dämmerlicht, das aus viel zu kleine Fenster eindringt, die ganz kleinen, meist zu zweit in einem der vergitterten Bettchen. Was den jungen Frauen aus Little Smile sofort auffällt, auch hier ist keine Betreuerin da und es gibt kein einziges Spielzeug, nichts als Matratzen und Gitter.
Erst im dritten Raum begegnet die kleine Gruppe um Anka einer Betreuerin aus dem Babyhome. Hier sind die Kleinen, die niemand adoptieren will. Ein etwa 3jähriger Junge, der Trisomie 21 hat, erwischt die Hand von Anka, zieht sie zu sich an die Gitterstäbe, betastet ihr Gesicht mit beiden Händen mit so einer Hingabe, dass er das Gleichgewicht verliert und auf seinen Hintern plumpst. Ein Mädchen hat eine Gaumenspalte. „Sowas will keiner“, meint die Frau im Sari und ihre Stimme klingt resigniert und auch ein wenig traurig. „Selbst ein hängendes Augenlied oder die Fehlstellung von Augen genügen, um bei denen durchzufallen, die hier das perfekte Baby suchen“. „Und was ist perfekt?“ fragt Anka. „Ein dicker Babyboy mit heller Haut“, kommt sofort die Antwort. So etwas findet sich natürlich nicht in diesem Raum der Übriggebliebenen. „Anka, Anka“, ruft Gajanthani, „schau mal hier“. Im Bettchen liegt ein Wesen mit viel zu großem Kopf und im Vergleich fast winzigen Gliedmaßen. „Das arme Ding“ meint die Betreuerin. „Könnt ihr die nicht nehmen, niemand will die, auch kein Kinderheim, dabei ist sie schon fast 5“. Niemand will die, das fährt den jungen Frauen aus Little Smile wie ein Dolch ins Herz. Auch sie sind ja nicht bei Familien aufgewachsen, hatten keine Eltern, die sich um sie kümmern konnten oder wollten, aber sie waren gewollt in Little Smile, vom ersten Augenblick angenommen und ja, auch geliebt.
Draußen ertönt eine Art Fanfare, der Minister hat mit Michael Kreitmeir das Band erreicht, das gleich feierlich durchgeschnitten wird. Gerade entzünden sie den Leuchter.
Alle laufen aufgeregt dorthin. Nein, nicht alle! Fünf junge Frauen und Anka stehen im halbdunklen Raum, die Kleinen, die niemand haben will, verschwimmen vor ihren Augen in denen Tränen stehen. „Wo seid ihr denn“, ruft die kleine Vilani, die sich an den Gitterstäben des Fensters hochzieht, um von draußen ins Innere des Raumes sehen zu können. „Anka, Anka, wann müssen wir tanzen?“ Und Anka taucht auf, wie aus einer anderen Welt und lächelt die Kleine an. Vor einem halben Jahr noch war auch Vilani in diesem Raum der Ungewollten, bei ihr war es auch eine Gaumenspalte, die von einer Operation nur teilweise beseitigt werden konnte. Als sie nach Little Smile gebracht wurde, musste sie unendlich viel aufholen und ja, sie wollte leben, lachen und geliebt werden. Dass sie heute in der Gruppe der Kleinen von Little Smile mittanzt, ja das ist ein Wunder, eines, das nur Liebe vollbringen kann.
Nachtrag: Die kommenden Wochen werden zeigen, ob und wenn ja wie eine Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Little Smile möglich ist, in deren Mittelpunkt einzig das Wohlergehen der Kleinkinder steht, auf dass dort nicht nur baulich ein Ort entsteht, indem jedes einzelne dieser kleinen Wesen angenommen, gewollt, ja geliebt wird.
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